Verkehrte Finanzwelt
Quelle: dpa

Von schwarzen Schwänen und schweren Flanken

Extreme Kursausschläge wie zu Beginn der Coronakrise sind selten. Jedoch weniger selten, als man annehmen mag.

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Die Coronakrise der letzten Monate mag bei vielen Anlegern die bange Frage aufwerfen, ob man sich auf derlei Extremereignisse nun häufiger einzustellen hat. So verlor etwa der Dow-Jones-Index zu Beginn der Pandemie am 16. März vergangenen Jahres 13% seines Kurswertes. Im Zusammenhang mit solchen Ausnahmezuständen wurde zuletzt häufig der von dem US-Finanzmathematiker Nassim Taleb geprägte Begriff „schwarzer Schwäne“ bemüht. In vielen Branchen arbeiten professionelle Risikomanager daran, die Eintrittswahrscheinlichkeit solcher Negativ-Szenarien - seien es Pandemien, Naturkatastrophen oder Unfälle - zu kalkulieren.

Auf welche Weise geht nun die Finanzbranche vor, um das Risiko starker Einbrüche an den Aktienmärkten zu ermitteln und Anleger damit vor Wertvernichtungen zu schützen?

15 Milliarden Jahre

Baut man auf den Annahmen des in der Finanzmarkttheorie etablierten Black-Scholes-Modells, so sollten die Renditen einer Aktie oder eines Index der sogenannten „Normalverteilung“ folgen. Im Kern bedeutet dies, dass die Gesamtheit aller (logarithmierten) Kursrenditen die Form einer Gauß‘schen Glockenkurve annehmen. Legt man dies zugrunde, so lassen sich - auf Basis historisch betrachteter Streuung und mittlerer Ausprägung der Wertentwicklungen - Wahrscheinlichkeiten für das zukünftige Auftreten von Renditen einer bestimmten Höhe errechnen.

Im Fall des Dow Jones vom 16. März 2020 hieße dies in der Praxis: Das Ereignis gehört zur Klasse der so genannten 10-Sigma-Events. Hierbei handelt es sich um Kurssprünge, die mehr als zehn Standardabweichungen von der im Mittel zu erwartenden Tagesrendite entfernt sind. Dazu zählt zum Beispiel auch der Schwarze Montag vom 19.10.1987, an dem der Dow Jones um mehr als 22% einbrach. Ein Tagesverlust, den es in dieser Größenordnung zuvor noch nie gegeben hat. Ereignisse dieser Klasse treten mit einer Wahrscheinlichkeit von weniger als 10-20% (also 0,00000000000000000001%) ein. Anschaulicher als diese Zahl selbst ist es, auf ihrer Basis den Zeitraum zu errechnen, in dem ein solches Ereignis im Schnitt einmal auftreten sollte. Für beide Ereignisse kommt man dann zu dem Ergebnis, dass sie nicht ein einziges Mal seit Anbeginn der Zeit (also der üblicherweise veranschlagten ca. 15 Milliarden Jahre) hätten auftreten sollen.

Kurvenenden spielen größere Rolle

Führt man sich anhand der vorherigen Ausführungen vor Augen, dass es innerhalb der letzten 50 Jahre mindestens zwei solcher Ereignisse gegeben hat (und es gibt tatsächlich noch deutlich mehr), so deutet vieles darauf hin, dass die Gauß‘sche Glockenkurve nur bedingt zur Beschreibung extremer Kurssprünge taugt. Kurz: Das Risiko solcher Ereignisse würde mit dieser Berechnung massiv unterschätzt. Man spricht in diesem Zusammenhang von sogenannten schweren Flanken („fat tails“). Dieses Phänomen beschreibt, dass das, was rechts und links von der Kurvenmitte passiert, häufiger eintritt, als es die Normalverteilung erwarten ließe. Folgt man Nassim Taleb, sei es sogar empfehlenswert, lediglich an extremen Enden zu investieren, statt in einem Portfolio aus Wertpapieren mittlerer Risiken. Dazu legt der Investor das Gros seines Kapitals in nahezu risikolosen Anlagen wie etwa Bundesanleihen an und spekuliert mit einem kleinen Anteil in extrem risikoreichen, aber potenziell sehr ertragsstarken (Zocker-)Wertpapieren. Ob das Nervenkorsett eines jeden Anlegers einer solchen sogenannten „Hantel-Strategie“ gewachsen ist, bleibt jedoch fraglich.

Modelle hinterfragen

Dass Renditen nicht perfekt durch eine Gauß-Verteilung beschrieben werden, dies hat sich in der Finanzwelt vornehmlich durch die Beiträge zur Portfolio- und Kapitalmarkttheorie des US-Wirtschaftswissenschaftlers Eugene Fama durchgesetzt. Dennoch nutzen einige Anbieter bei der Modellierung des Marktverhaltens und bei der Berechnung von Risikokennzahlen weiterhin veraltete beziehungsweise überholte Verteilungsannahmen.

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Wenn Ihnen also bei der Wahl eines Anlageinstruments erörtert wird, dass der Totalverlust nur bei Eintreten extrem seltener Marktereignisse möglich ist, so scheuen Sie sich nicht, nochmals kritisch nachzufragen.

Mehr zum Thema: Auch wenn die BaFin seit dem Wirecard-Skandal in der Kritik steht: die Finanzaufsicht gewinnt bei ihren Prüfungen tiefen Einblick und spricht wichtige Warnungen aus. Die hört nur kaum ein Anleger.

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