Klinke schätzt die Stadt für ihre seit der Nachkriegszeit geübte Toleranz, ihre Freiräume und ihre „Überraschungskultur. Jeder kann machen, was er will, wenn er kreativ und ausdauernd ist“, sagt er. Er sitzt auf einer Bank im Park des Skulpturenmuseums „Liebieghaus“, ein Frankfurter Vorzeigeplatz, die frühere Fabrikantenvilla ist nur wenige Meter vom Main entfernt. Vor 30 Jahren beschlossen die Planer, die damals stinkende Dreckbrühe als natürliche Mitte der Stadt zurückzugewinnen. Das hat geklappt, heute ist der Fluss im Sommer Ausflugsziel für Hunderte Ruderer, Spaziergänger und sogar Schwimmer. „Frankfurt ist nicht mehr kalt und schwarz-weiß, sondern bunt und lebendig“, sagt Klinke.
Aber nicht frei von Schatten. Klinke nervt das Gerede über soziales Auseinanderbrechen, die Netzwerke der Stadt seien stark genug, um das zu verhindern. „Was fehlt, ist eine Debatte, eine Vision, bei der sich alle fragen, wie sie die Zukunft mitten in Europa gestalten wollen“, sagt er. Der Erfolg lulle die Verantwortlichen ein, es fehle der folgenreiche Dialog zwischen Unternehmen und Kultur, Engagement beschränke sich auf das ablassartige Sponsoring einer Ausstellung. „Meine Generation tritt wohlversorgt ab“, sagt Klinke. „Die Jüngeren sind oft sehr schnell erfolgreich geworden, mit ihren internationalen Lebensläufen aber lockerer an die Stadt gebunden. Deshalb spüren sie weniger Verantwortung.“
Notenbank als Katalysator
Der Bauzaun mit bunten Pinocchios und einem Chor düsterer Affen aus der Sprühdose schirmt das Hochhaus weitläufig ab, Hammerschläge hallen herüber, Männer mit Helmen laufen auf und ab. 185 Meter ragt die Glasfassade aus der Brachlandschaft um die ehemalige Großmarkthalle empor, sie wirkt, als wäre sie direkt aus Stanley Kubricks Filmklassiker „2001“ gelandet. Vier Jahre hat der Bau der neuen Zentrale der Europäischen Zentralbank gedauert, 1,2 Milliarden Euro gekostet, selbst eine neue Brücke über den Main hat die Stadt gebaut. 2300 Menschen sollen hier arbeiten, Ende dieses Jahres ziehen die ersten Mitarbeiter ein. Es ist „Viertel vor Entwicklung“, wie das Plakat am Zaun verkündet.
Entwickeln sollen die Neuankömmlinge das Ostend, das bisherige trübe Industriegrau soll weichen. Viel ist davon noch nicht zu sehen. Die Durchfahrtstraßen säumen ein Matratzenlager, Welt der Farben und Eisen Fischer, zwischen den Wohnhäusern flanieren Männer mit offenen Bierflaschen der Lokalmarken Binding und Henninger. Die Lokale heißen Hesse Wirtschaft und Zur Kutscherklause, Mittagsschnitzel gibt es hier für 6,90 Euro. Einsames Zeichen der neuen Zeit ist das Restaurant Oosten, ein großer Glaskasten direkt am Main, vor dem eine Gruppe jüngerer Anzugträger in der Mittagssonne Salat knabbert. Mehr soll folgen: Gerade hat die Stadt große Pläne durchgewinkt für 650 Wohnungen, Büros, bis zu drei Hotels.
Ausreichend ausgestattet, um für Aufschwung zu sorgen, sind die EZB-Leute. Ein Bankenwächter kassiert zwischen 65.000 und 100.000 Euro im Jahr – deutlich mehr, als nationale Behörden zahlen. Richtig attraktiv machen den Job die Vergünstigungen. Es gibt steuerfreie Zulagen, 325 Euro pro Kind, hauseigene Betreuung für kleinere und Plätze in der internationalen Schule für größere Kinder. Ausländer bekommen 16 Prozent Ortszulage, es gibt Hilfe bei der Suche nach einem Job für den Lebenspartner und nach einer Wohnung und auch noch zwei Monatsgehälter extra – für Möbel. Alle zahlen keine deutsche Einkommensteuer, sondern einen deutlich niedrigeren Satz direkt in den EU-Haushalt.
„Wir haben überall in Europa Werbung für Frankfurts Lebensqualität gemacht“, sagt EZB-Personaler Rennpferdt. Tausende Neuankömmlinge machen nun den Realitäts-Check, unbelastet von alten Klischees.