„Bullenmärkte sterben nicht an Altersschwäche“, lautet eine alte Börsenregel der Wall Street. Nach der scharfen Korrektur im vierten Quartal des vergangenen Jahres haben sich die Märkte in den ersten Monaten 2019 wieder deutlich erholt. Geht einer der längsten Bullenmärkte der Geschichte nun einfach weiter? Oder erleben wir lediglich eine kurzfristige ‚Bärenmarktrally‘, wie es viele technischen Analysten vorhersagen? Stehen wir an einem Wendepunkt?
Die Angst, etwas zu verpassen
In den Medien werden die wirtschaftlichen und politischen Risiken unserer Zeit intensiv diskutiert, aber kaum ein Investor erwartet für dieses Jahr einen erneuten Einbruch oder gar einen Bärenmarkt. Nach zehn Jahren Bullenmarkt haben wir uns daran gewöhnt, dass Rückschläge gute Kaufgelegenheiten sind. Die kräftige Erholung seit Anfang dieses Jahres scheint diese Einstellung zu bestätigen, auch wenn es dafür keine fundamentale Begründung gibt. Und niemand will die Fortsetzung des Aufschwungs an den Börsen verpassen. Die psychologische Falle im Kopf schnappt zu: Kein Investor erträgt auf Dauer den Gedanken an entgangene Gewinne. Experimente im Hirnscanner zeigen, dass bei Anlegern die Angst vor der Reue, nicht investiert zu haben, zu groß ist. Nach längeren Phasen, in denen der Bullenmarkt nach Rückschlägen schnell wieder Fahrt aufgenommen hat, neigen wir zudem dazu, die Risiken systematisch zu unterschätzen. Der Widerstand bricht, es wird gekauft, in unreflektierter Erwartung weiter steigender Kurse.
Unser Gehirn hat sich im Laufe der Evolution darauf optimiert, Entwicklungen und Trends frühzeitig zu erkennen und automatisch linear fortzuschreiben. Das spart Energie und hat sich bewährt. Wendepunkte oder Trendwechsel erkennen wir in der Regel zu spät, belegen neurowissenschaftliche Studien. Und die Erfahrung der vergangenen zehn Jahre an den Börsen lehrt uns, dass wir uns auf die Unterstützung der Zentralbanken und umfangreiche Aktienrückkaufprogramme der Unternehmen verlassen können. Oder ist diesmal alles anders?
Verstand ausgeschaltet?
Das menschliche Gehirn benutzt Narrative, um komplexe Sachverhalte zu vereinfachen und damit entscheidungsfähig zu bleiben. Das hat seinen Preis. Wir verdrängen, generalisieren und nehmen Veränderungen verzerrt oder zu spät wahr. Wir erkennen Muster und kausale Zusammenhänge, wo keine sind und tun uns von Natur aus sehr schwer, den Zufallscharakter von Entwicklungen zu akzeptieren. Nachrichten, die beispielsweise zu unserer Markteinschätzung passen, werden sehr viel stärker gewichtet als solche, die bewährte Überzeugungen in Frage stellen. So passen wir die Welt unbewusst unseren Erwartungen an. Wir blenden die Warnsignale aus, wie Hirnforscher nachgewiesen haben. Hinzu kommt: Die meisten Investoren glauben, alles unter Kontrolle zu haben und überschätzen regelmäßig ihre Prognosefähigkeiten. Diese sogenannte Kompetenzillusion ist nicht nur ein individueller Urteilsfehler, sondern tief in der elitären Berufskultur der Finanzmärkte verankert.
Menschen sind von Natur aus Herdentiere und folgen reflexartig der Mehrheit, sagt die Hirnforschung. Sich gegen eine Marktbewegung zu stellen, fällt deshalb unglaublich schwer. Die sogenannte Amygdala, das Angstzentrum im Gehirn, schlägt dabei Alarm und löst blitzartig biochemische Prozesse aus. Das Stresshormon Adrenalin sorgt in Zusammenarbeit mit dem Bindungshormon Oxcitocin dafür, dass wir uns schnell wieder der vermeintlich sicheren Mehrheitsmeinung anschließen. Lieber gemeinsam auf die Klippe zusteuern, als sich alleine gegen die Herde zu stellen und Gefahr zu laufen, niedergetrampelt zu werden. Dieses Phänomen der Gefühlsansteckung ist schon lange bekannt und hilft, sowohl Spekulationsblasen als auch panikhafte Ausverkäufe an den Börsen zu erklären.