Neue Grundsatzurteile Wann Urlaubsansprüche kein Verfallsdatum haben

Bislang verjähren Urlaubsansprüche spätestens nach drei Jahren. Das könnte sich ändern. Quelle: Getty Images

Bislang verjähren Urlaubsansprüche spätestens nach drei Jahren. Doch nun hat das Bundesarbeitsgericht diese Regelung gekippt. Was sind die Folgen für Arbeitnehmerinnen und Arbeitgeber?

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Vielleicht sollten Arbeitnehmer aus dem Urlaub künftig eine Postkarte an den Europäischen Gerichtshof (EuGH) schicken. Denn der hat ihre Urlaubsrechte in den vergangenen Jahren deutlich gestärkt. Schon vor einigen Jahren hatte der EuGH entschieden, dass ein Arbeitnehmer seinen Urlaubsanspruch nicht automatisch verlieren darf, wenn er keinen Urlaub beantragt hat. Eine Verjährung des Urlaubsanspruchs setze voraus, dass der Arbeitgeber den Arbeitnehmer über seinen Urlaubsanspruch und die Verjährungsfrist informiert hat. 

Und wenn nicht? Verjährt Urlaub dann gar nicht? Diese Frage wurde bislang uneinheitlich beantwortet. Dabei hat die Antwort große finanzielle Auswirkungen. Vor allem nach einem längeren Ausfall oder einer Langzeit-Erkrankung können Arbeitnehmer lange Urlaubsansprüche haben. Nach deutschem Recht konnten Arbeitgeber bislang zumindest noch hoffen, dass Urlaubsansprüche spätestens nach drei Jahren verjähren. Doch dem Bundesarbeitsgericht (BAG) kamen zunehmend Zweifel, ob dies mit europäischem Recht im Einklang steht. Nun hat das BAG zwei Grundsatzurteile dazu gefällt.

Joachim Zobel und Aribert Panzer beantworten im Interview die wichtigsten Fragen zum Thema. Die beiden sind Fachanwälte für Arbeitsrecht bei der Kanzlei Schultze & Braun, Zobel leitet den Arbeitsrechtsbereich dort.

WirtschaftsWoche: Schon im Vorfeld waren wichtige Grundsatzurteile erwartet worden. Worum ging es in den Fällen, zu denen das BAG nun geurteilt hat?
Joachim Zobel: Um nicht weniger als eine der zentralen Säulen des deutschen Urlaubsrechts, die seit Jahrzehnten in den Unternehmen beim Thema Urlaub den Betriebsfrieden gesichert hat. Es ging um die Frage, ab wann und unter welchen Bedingungen Urlaubsansprüche verjähren und, ob das Bundesarbeitsgericht die fundamentale Änderung übernimmt, mit der der Europäische Gerichtshof für neue Unsicherheit beim Thema Urlaub gesorgt hatte. Nun ist klar, dass dem so ist und das BAG das deutsche Verjährungsrecht mit einem Schlag ausgehebelt hat. 

Wie kommen Sie zu dieser Einschätzung?
Zobel: Bislang unterlagen auch Urlaubsansprüche den generellen Verjährungsfristen – mit der Folge, dass Urlaub, den ein Arbeitnehmer nicht genommen hatte, spätestens nach drei Jahren verfiel. Eine solche Verjährung hatte der Europäische Gerichtshof im September allerdings an die Bedingung geknüpft, dass der Arbeitgeber den Arbeitnehmer auf diesen Umstand – also die Tatsache, dass sein Urlaubsanspruch verjähren kann – regelmäßig hingewiesen hat. Wichtig ist, dass die Hinweispflicht des Arbeitgebers ausgehend von der Rechtsprechung des EuGH auch langzeitkranke Arbeitnehmer umfassen kann – etwa für das Kalenderjahr, in dessen Verlauf die Arbeitsunfähigkeit eingetreten ist. Dieser Auffassung ist das BAG nun mit seinen Entscheidungen vom heutigen Dienstag eins zu eins gefolgt. Das bedeutet, dass es die automatische Verjährungsgrenze nicht mehr gibt. Die Verjährung eines Urlaubsanspruchs nach drei Jahren greift nur noch in Kombination mit einem Hinweis des Arbeitgebers: Der Arbeitgeber muss seine Arbeitnehmer also regelmäßig darauf hinweisen, dass ihre Urlaubsansprüche verjähren können.

Experten beim Thema Arbeitsrecht: Joachim Zobel und Aribert Panzer. Quelle: Presse

Welche Folgen für Arbeitnehmer hat dies?
Zobel: Durch die Bedingung eines regelmäßigen Hinweises durch den Arbeitgeber bei der Verjährung von Urlaubsansprüchen nach drei Jahren hat das Bundesarbeitsgericht zunächst einmal die Position der Arbeitnehmer gestärkt. Denn der Arbeitgeber muss sie nun in regelmäßigen Abständen nicht nur darauf hinweisen, dass sie ihren Urlaub nach Möglichkeit im laufenden Geschäftsjahr nehmen sollten und nicht genommener Urlaub spätestens nach drei Jahren verjährt. Erinnert ein Arbeitgeber seine Arbeitnehmer nicht regelmäßig an ihre Ansprüche sowie deren Verfall und Verjährung, ist in zeitlicher Hinsicht alles offen – mit allen entsprechenden operativen und vor allem finanziellen Risiken für den Arbeitgeber. Arbeitnehmer können in einem solchen Fall – also ohne regelmäßigen Hinweis – ihre Urlaubsansprüche zeitlich unbefristet ansammeln.

Und welche Folgen für Unternehmen sehen Sie?
Panzer: Für Unternehmen führt die Bedingung eines regelmäßigen Hinweises an die Arbeitnehmer einerseits zu einem enormen organisatorischen Aufwand. Es muss nun genau geplant und dokumentiert werden, wann und wie welcher Arbeitnehmer über seine Urlaubsansprüche informiert wurde. Man kann durchaus sagen: Derjenige, der etwas schuldet – also der Arbeitgeber den Urlaubsanspruch des Arbeitnehmers – muss diesen immer wieder darauf hinweisen. Und das in Zeiten, in denen sich die Krisen die Klinke in die Hand geben und Unternehmen ihr Geschäft nur noch bedingt und für einen vergleichsweise kurzen Zeitraum planen können. Mit dem Blick auf die notwendigen Rückstellungen birgt das Thema dabei auch noch ein großes finanzielles Risiko.

Normalerweise muss Urlaub genommen werden und darf nicht finanziell abgegolten werden. Eine Ausnahme gibt es nur, wenn dies nicht mehr möglich ist. Es geht also um freie Tage, aber auch um Geld.
Aribert Panzer: Tatsächlich hat die Frage, ob ein Arbeitnehmer seinen Urlaub im jeweiligen Geschäftsjahr genommen hat, eine Erholungs- und eine finanzielle Komponente. Normalerweise muss Urlaub in der Tat genommen werden. Selbst die oft übliche Praxis, dass Resturlaub zumindest bis Ende März des Folgejahres genommen werden kann, ist gesetzlich an dringende betriebliche oder persönliche Gründe geknüpft. Doch das Thema hat auch eine große finanzielle Bedeutung. Schließlich sorgt jeder Urlaubstag, den ein Arbeitnehmer mit in das nächste Geschäftsjahr nimmt, dafür, dass der Arbeitgeber finanzielle Rückstellungen bilden muss – etwa für den Fall, dass einem Arbeitnehmer mit Resturlaub gekündigt werden muss oder er von sich aus kündigt. In beiden Fällen ist ein finanzielles Polster beim Arbeitgeber sinnvoll. Doch diese Rückstellungen können die Firmenbilanz negativ beeinflussen, da sie im Falle ihrer Auflösung den zu versteuernden Gewinn und dadurch die Steuerlast erhöhen. Unternehmen müssen daher darauf achten, dass ihre Arbeitnehmer ihre nicht genommenen Urlaubstage nicht unbegrenzt ansammeln und die zu bildenden Rückstellungen ins Unermessliche steigen. 

Was raten Sie den Unternehmen nun?
Zobel: Unternehmen sollten sich unbedingt zeitnah mit den beiden Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts befassen und prüfen, wie sie gegenüber ihren Arbeitnehmern der Hinweispflicht nachkommen können. Wichtig ist, dass die Hinweispflicht – auch ausgehend von der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs – auch langzeitkranke Arbeitnehmer umfassen kann, etwa für das Kalenderjahr, in dessen Lauf die Arbeitsunfähigkeit eingetreten ist. Wichtig ist: Es geht nicht darum, Arbeitnehmern ihren Urlaub vorzuenthalten oder wegzunehmen. Es ist allerdings essenziell, dass Arbeitgeber die mit den Urlaubsansprüchen ihrer Arbeitnehmer verbundenen finanziellen Risiken planen und kontrollieren können – gerade in wirtschaftlich schwierigen Zeiten wie jetzt. Denn wenn Unternehmen durch die Urlaubsansprüche ihrer Arbeitnehmenden in eine finanzielle Schieflage geraten, ist niemandem geholfen.

Teils ist nun zu lesen, dass damit auch jahrzehntelange Urlaubsansprüche noch geltend gemacht werden können. Wie weit zurück in die Vergangenheit ist das möglich?
Panzer: Es gibt bei den Urlaubsansprüchen nun keine automatische Verjährungsgrenze nach drei Jahren mehr. Im Grunde könnten Arbeitnehmer auch rückwirkend die Urlaubsansprüche geltend machen, die seit Beginn des Arbeitsverhältnisses entstanden sind. Ich gehe davon aus, dass die Mehrzahl dieser Fälle gerichtlich geklärt werden müssten. Es wird also aller Voraussicht nach künftig weitaus mehr Rechtstreitigkeiten vor den Arbeitsgerichten geben, in denen es um die Verjährung von Urlaubsansprüchen geht. Interessant wird zudem, wie vor dem Hintergrund der heutigen Entscheidungen künftig monetäre Urlaubsabgeltungsansprüche gehandhabt werden müssen. Das Bundesarbeitsgericht hat diesen Punkt in seiner Information zu den Entscheidungen angerissen, entscheidend wird hier die umfassende Urteilsbegründung sein, die jedoch noch nicht vorliegt.   

Wie sollten Arbeitgeber ihre Arbeitnehmer informieren, damit dies auch nachweisbar ist?
Zobel: Die Tatsache, dass ein Arbeitgeber seine Arbeitnehmer formal und rechtzeitig darauf hinweisen muss, dass sie noch Urlaubstage übrighaben und diese verfallen können, ist per se nicht neu. Das hat das Bundesarbeitsgericht bereits 2019 entschieden. Wichtig ist dabei, dass der Arbeitgeber auch nachweisen kann, dass er seine Arbeitnehmer an ihre verbleibenden Urlaubstage und den möglichen Verfall erinnert hat. Denn nur dann verfällt der Jahresurlaub der Arbeitnehmer zum Ende des Jahres beziehungsweise zum 31. März des Folgejahres.

Wie läuft es bislang in den Unternehmen?
Panzer: Dass der Arbeitgeber den Arbeitnehmer daran erinnert, Urlaub zu nehmen, ist üblich, und mit Blick auf ihre Unternehmensplanung haben die meisten Unternehmen dies in diesem Jahr wahrscheinlich ohnehin schon getan. Unklar definiert bleibt jedoch die Informationspflicht des Arbeitgebers gegenüber seinen Arbeitnehmern, die sogenannten Hinweisobliegenheit. Die entscheidende Frage dabei lautet: Was heißt „formal und rechtzeitig“ hinweisen ganz konkret? Erinnert der Arbeitgeber zu früh im Jahr, fehlt dem Hinweis die Wirkungskraft. Je näher das Jahresende rückt, desto wirksamer werden Erinnerungen oder gut gemeinte Warnungen vor einem Urlaubsverfall. Besonders ratsam ist es für Arbeitgeber, die Themen Urlaub sowie Verfall und Verjährung von Urlaubsansprüchen regelmäßig anzusprechen, beispielsweise alle drei Monate. Über solch einen regelmäßigen Turnus bleiben alle informiert und das Thema und die Nerven der Beteiligten werden auch nicht überstrapaziert. Um auf der sicheren Seite zu sein, sollten Arbeitgeber die Information ihrer Arbeitnehmer schriftlich dokumentieren und sich von den Arbeitgebern innerhalb einer angemessenen Frist bestätigen lassen, dass sie die Information erhalten und verstanden haben. 

Was ist ganz praktisch zu beachten?
Zobel: Der eher unklaren Definition der arbeitgeberseitigen Pflichten – „formal und rechtzeitige Information“ – lässt sich am besten im Austausch mit den Arbeitnehmern begegnen. Für Arbeitgeber gilt es, die Urlaubswünsche der Arbeitnehmer abzufragen, um diese bei der Festlegung des Urlaubs mit den betrieblichen Notwendigkeiten abzustimmen. Dabei ist es wichtig, die jeweiligen betrieblichen oder branchenbedingten Besonderheiten im Blick zu haben. Das fällt kleineren Unternehmen naturgemäß leichter: Zehn bis 30 Personen, die einander kennen, finden schneller einen Konsens als größere Einheiten, die vielleicht sogar noch über mehrere Standorte verteilt sind.

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Panzer: Unternehmen sollten zudem regionale, branchen- und fachbezogene Besonderheiten beachten – etwa Schulferien oder Schlechtwetterzeit bei Tätigkeiten im Freien. Ein vorausschauender Arbeitgeber hat diese Punkte jedoch ohnehin auf dem Schirm. Nun muss der Arbeitgeber aber zusätzlich noch darauf achten, dass er seine Arbeitnehmer auf verbleibende Urlaubstage, auf den drohenden Verfall sowie die Verjährung nach drei Jahren aufmerksam macht. Fakt ist: Wenn Arbeitgeber und Arbeitnehmer sich austauschen, profitieren beide Seiten davon und das Thema Urlaubsplanung ist – trotz ungenauer Definition – keine Herkulesaufgabe.

Herr Zobel, Herr Panzer, vielen Dank für das Gespräch.

Lesen Sie auch: Wie faul sind die Deutschen?

Hinweis: Das Interview wurde in einer ersten Version vor der Verkündung der Urteile geführt und nach den Urteilen aktualisiert.

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