Berlin, Café Einstein, Unter den Linden, an einem frühlingshaften Nachmittag Anfang März. Enrico Brissa, 46, promovierter Jurist, Leiter des Protokolls beim Deutschen Bundestag, kommt auf die Minute pünktlich. Ein schlanker, leicht jungenhaft wirkender Mann im Nadelstreifenanzug, mit Krawatte, versteht sich. „Die K. ist nach wie vor ein wichtiger Teil des männlichen Anzugs – auch jenseits der Weiberfastnacht“, vermerkt Brissa in seinem neuen Buch „Auf dem Parkett“, einem so unterhaltsamen wie lehrreichen Register von A wie Absage bis Z wie Zeremoniell, mit Ausflügen in die Kulturanthropologie und Semiotik. Der Autor, der bis 2016 Protokollchef der Bundespräsidenten Wulff und Gauck war, versteht es als „Plädoyer für die schönen Künste der Höflichkeit“. Nach dem Austausch der Visitenkarten („V. sollten sparsam verwendet und sorgfältig überreicht werden“) geht es ohne viel Umstände zur Sache.
WirtschaftsWoche: Herr Brissa, wann haben Sie zuletzt gegen Ihr eigenes Protokoll verstoßen?
Wenn Sie damit nicht das offizielle Protokoll meinen, sondern das persönliche Verhalten, die guten Umgangsformen – gegen die verstößt jeder, auch ich, wahrscheinlich täglich. Und oft ganz unbeabsichtigt. Etwa wenn wir einen Gruß nicht erwidern, diese kleine Geste der Aufmerksamkeit, die banal scheint und doch fundamental ist für unser Zusammenleben – als Zeichen der Zivilität.
Wozu gibt es Manieren überhaupt?
Sie geben uns Sicherheit und verleihen uns Halt im gesellschaftlichen Leben. Das verschafft uns Selbstvertrauen und Trittsicherheit. Aber es kommt etwas hinzu: Indem Manieren uns Halt geben, helfen sie uns, eine Haltung zu entwickeln, die von Rücksicht und Respekt geprägt ist. Insofern sind sie ein Stück sozialer Kitt. Man könnte fast sagen: Manieren ermöglichen erst Sozialität. Jedenfalls normieren sie unser Leben entscheidend, ähnlich den rechtlichen Regeln.
Das heißt, eine Gesellschaft ohne Umgangsformen kann gar nicht funktionieren?
Davon kann man wohl ausgehen. Jede Gesellschaft benötigt Umgangsformen. Manieren markieren Zusammengehörigkeit, sie zeigen, wer dazugehört, etwa über Verhaltenscodes. In diesem Sinne sind sie geradezu identitätsstiftend.
Ihr Buch ist ein Plädoyer für die Wiederbesinnung auf die Regeln des guten Umgangs. Tatsächlich hat man den Eindruck, dass immer mehr Menschen diese Regeln nach eigenem Gusto auslegen.
Wenn sie diese Regeln überhaupt kennen. Die Soziologen haben dafür ein Kunstwort geprägt: Informalisierung. Damit ist gemeint, dass sich in unserer auf Vielfalt angelegten Gesellschaft vormals verbindliche Verhaltensregeln gelockert haben. Man gibt sich gern zwanglos und betont die Individualität.
Das kann man auch als Freiheits- und Bequemlichkeitsgewinn verbuchen.
Durchaus. Ich verstehe den Drang zur Lockerheit und Individualität nur zu gut und teile ihn auch. Mir geht es lediglich darum, das Bewusstsein für die Regeln des Umgangs zu schärfen. Im Übrigen haben Manieren immer auch etwas Disziplinierendes, es gehört eine Prise Künstlichkeit zu ihnen. Sie fordern, dass man sich gleichsam in Zucht nimmt, den schönen Schein wahrt und, zum Beispiel, auf die Frage „Wie geht es Ihnen?“ nicht auf seine Beschwerden hinweist. Fritz J. Raddatz hat das mal sehr schön auf den Punkt gebracht: „Manieren sind ja auch Lüge, aber angenehmer als ‚Hoppla‘.“
Und heute ist ein bisschen zu viel „Hoppla“?
Jedenfalls ist mit dem Freiheitsgewinn ein Verlust von Verhaltenssicherheit verbunden. Wenn das Bewusstsein für soziale Normen, Symbole und Rituale schwindet, wird der Umgang ja keineswegs leichter, sondern schwieriger. Viele Menschen fühlen sich überfordert, sind verunsichert, haben mitunter Angst, sich danebenzubenehmen. Nicht nur bei vergleichsweise harmlosen Herausforderungen wie der korrekten Handhabung des Bestecks. Mein Buch soll eine Anleitung sein zum souveränen Umgang mit diesen Regeln.
Sie erwähnen auch Fauxpas.
Solche Fehltritte kommen überall vor und passieren jedem, auch auf dem Parkett. In aller Regel aus Unwissenheit. Wenn etwa ein Vorstandsvorsitzender eines deutschen Konzerns beim Festessen neben höchsten staatlichen Repräsentanten die Jacke auszieht, so dürfte dies Fragen aufwerfen.
Schlechte Manieren sind kein Unterschichtenphänomen
Schlechte Manieren sind also kein Unterschichtenphänomen.
Ich tue mich schon mit dem Wort „Unterschichtenphänomen“ schwer. Schlechte Manieren kommen in allen Teilen der Gesellschaft vor. Sie sind ein Durchschnittsphänomen.
Ist Deutschland womöglich europäischer Spitzenreiter in Richtung Ungezwungenheit?
Hier gibt es kein Ranking. Auf welcher Grundlage wäre ein solches auch möglich? Den Trend zur Informalisierung können Sie gewiss auch in anderen Ländern beobachten. Allerdings scheint mir der Grad der Verunsicherung in Deutschland höher zu sein als in anderen westeuropäischen Staaten. Leicht ironisch könnte man im Hinblick auf die Manieren geradezu von einem „kleinen deutschen Sonderweg“ sprechen.
Worauf führen Sie den zurück?
Womöglich hängt diese Entwicklung mit den tief greifenden politischen, sozialen und kulturellen Umbrüchen zusammen, die die jüngere deutsche Geschichte prägen. Von der Reichsgründung 1870/71 über die Weimarer Republik und das Dritte Reich bis zur deutschen Teilung und Wiedervereinigung. Angesichts dieser Zäsuren konnten sich verhaltensprägende Traditionen in Deutschland nur schwer herausbilden, jedenfalls schwerer als in anderen Ländern, etwa Frankreich und England.
Die Deutschen sind auch in Sachen Manieren eine verunsicherte Nation?
So würde ich es nicht ausdrücken. Es geht vielmehr darum, dass uns die Regeln des Umgangs, die Rituale und Symbole menschlichen Benehmens oft gar nicht mehr präsent sind. Wobei es mir nicht um die Regeln um ihrer selbst willen geht. Vielmehr möchte ich für die Vielschichtigkeit sozialer Normen sensibilisieren, damit jeder einen zu ihm passenden Weg findet.
Was können unsere Nachbarn denn besser?
Bei ihnen gibt es teilweise homogenere Verhaltenskodizes, wobei pauschale Vergleiche natürlich immer schwierig sind. Wenn Sie aber die Opernhäuser anderer europäischer Metropolen besuchen, werden sie unschwer traditionellere Kleiderordnungen erkennen als etwa in Berlin. Oder vergleichen Sie eine U-Bahn-Fahrt in London mit einer bei uns: Das Verhalten der Fahrgäste ist normierter, auch dank der allgegenwärtigen Schilder, die keinen Zweifel daran lassen, wo man stehen und gehen soll, und dass die Wagen des öffentlichen Nahverkehrs kein zweites Wohn- und Speisezimmer sind.
In Deutschland schminken sich die Menschen inzwischen in der Bahn.
Dass Fingernägel im Zug lackiert werden, dass man sich parfümiert und über die intimsten Dinge in Zimmerlautstärke spricht, dürfte fast jeder schon einmal erlebt haben. Das erinnert mich ein bisschen an die Zeiten des Absolutismus. Nur dass es heute nicht mehr der König ist, der öffentlich Toilette macht, sondern ein beliebiger Fahrgast. Vom viel beschriebenen Rückzug ins Private kann nicht die Rede sein. Das Private wird zunehmend in die Öffentlichkeit getragen. Denken Sie nur ans Essen. Die Berliner Verkehrsbetriebe haben einschlägige U-Bahn-Szenen in einem Video hübsch auf die satirische Spitze getrieben: „Is mir egal.“
Die Wirklichkeit ist weniger lustig. Sind wir rücksichtsloser geworden im Umgang miteinander?
Rücksicht ist so etwas wie die DNA guter Manieren. Gerade im Alltag der Massengesellschaft, also unter Bedingungen der Raumknappheit. Vielen mangelt es am nötigen Raumgefühl. Sie haben keinen Sinn für die Reichweite des eigenen Körpers, für die Distanz zu den Mitmenschen – und rücken einander immer öfter „auf die Pelle“. In der „Rushhour“ wird hemmungslos gerempelt, die Armlehne im Zug wird kaum mehr als Begrenzung wahrgenommen, und dass man besser aufsteht, um den Sitznachbarn vorbeizulassen, anstatt ihn über Beine steigen zu lassen, scheint weithin unbekannt.
Sie sprechen vom „Kampf der Knie“.
Es fehlt uns an dem Bewusstsein für das, was Engländer „Personal space“ nennen. Ein Zauberwort der britischen Manieren, das den physischen Schutzraum der Persönlichkeit bezeichnet, die Würde des respektvollen Abstands. Es ist bezeichnend, dass es dafür keine Entsprechung im Deutschen gibt.
"Es geht mir nicht um eine Verklärung der Vergangenheit"
Viele Beobachtungen, die Sie versammeln, klingen wie Verlustanzeigen. Sie vermissen etwa die gute alte Sitte des privaten Antrittsbesuchs: dass man sich als frisch Zugezogener den Nachbarn vorstellt…
…oder die privaten Visitenkarten und die Gästebücher. Aber verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Es geht mir nicht um eine Verklärung der Vergangenheit. Es kommt mir vielmehr darauf an, die Wahrnehmung zu schärfen für die Werte, die hinter den Regeln und Ritualen stehen: für Aufmerksamkeit, Anstand und Rücksicht. Und die drohen ins Hintertreffen zu geraten in einer Gesellschaft, die nur noch die Devise kennt: „Mein Handy und ich.“
Was meinen Sie damit?
Allein schon der Umstand, dass viele Bahn-Reisende heute die Mitreisenden gar nicht mehr wahrnehmen, weil sie, mit geräuschunterdrückenden Kopfhörern ausstaffiert, auf ihre digitalen Endgeräte starren, führt zur Isolation. Sie kommen gar nicht mehr in die Verlegenheit, jemandem das schwere Gepäckstück in die Ablage zu legen oder aufzustehen, um den Nachbarn vorbeizulassen.
Die digitale Technik als Manierenkiller?
Jedenfalls verstärkt sie in vielen Fällen die Tendenz zur Vereinzelung in einer Gesellschaft, in der die sozialen Bindekräfte, von der „guten Kinderstube“ bis zu den Kirchen und Parteien, ohnehin schwächer werden. Allenthalben fehlt es an Feedbacks, an sozialen Resonanzfeldern für die Ausbildung und Festigung guter Manieren. Wobei die Digitalisierung ganz spezielle Effekte zeitigt – mit Folgen für die Etikette.
Nämlich?
Nicht nur sind immer mehr Menschen vor allem mit dem Handy beschäftigt, auch bei Tisch, wo es griffbereit neben dem Besteck liegt. Die Form ihrer Kommunikation hat durch den Andrang der digitalen Daten ebenfalls gelitten. Viele empfinden sich zunehmend als Objekt der digitalen Tools und Apps und kommen vor lauter E-Mails und WhatsApp-Nachrichten nicht mehr dazu, die Inhalte genau zu lesen und angemessen zu beantworten, samt Verteiler, Anrede und Schlussformel. Das ist keine Kleinigkeit. Mit Antwort und Dank steht eine kulturelle Errungenschaft auf dem Spiel: Die Gegenseitigkeit der Kommunikation, die Bestätigung einer Beziehung durch Erwidern.
Stattdessen lernt man zu ignorieren…
…oder lässt eine Anfrage offen und reagiert, etwa auf Einladungen, möglichst unverbindlich. Die Digital-Ära ist verliebt ins Vorläufige. Man muss sich in aller Regel mehrmals verabreden, bevor es zu einer persönlichen Begegnung kommt.
Sie sehen auch die „Kultur des Schreibens“ bedroht?
Mit solchen Befunden muss man vorsichtig sein, denn viele haben durch die Digitalisierung zur Schriftlichkeit zurückgefunden. Als noch Briefe geschrieben wurden, erfolgten stets mehrere Zwischenschritte, die Zeit zur Reflexion ließen, vom Entwurf auf Konzeptpapier bis zur Reinschrift und dem Kuvertieren und Frankieren. Etwas ganz anderes ist es, spät nachts in die Tasten zu hauen und auf „Senden“ zu drücken. Die Leichtigkeit der digitalen Kommunikation verführt zur Lässigkeit, zum Sich-gehen-Lassen. Dabei gilt auch hier das Gebot der Manieren: der Freiheit eine Form zu geben, damit sie nicht verwildert.