US-Präsident Joe Biden braucht nur einige Sätze, um gleich mehrere historische Superlative zu präsentieren als er am Donnerstag bei einer Spendenveranstaltung nahe New York vor Anhängern spricht. Die aktuelle Situation im Krieg zwischen Russland und der Ukraine vergleicht er mit der Kuba-Krise vor 60 Jahren. „Mit der Aussicht auf ein Armageddon sind wir seit Kennedy und der Kuba-Krise nicht mehr konfrontiert gewesen“, wird Biden bei seinem Auftritt zitiert.
Damals, im Oktober 1962, als John F. Kennedy US-Präsident und damit der Oberbefehlshaber war, hatte das nukleare Wettrüsten zwischen den USA und der Sowjetunion mit der Stationierung sowjetischer Mittelstreckenraketen auf Kuba eine dramatische Eskalationsstufe erreicht. So nah wie damals kam die Welt einer möglichen atomaren Vernichtung nach Meinung vieler Experten nie wieder.
Biden sieht heute wieder eine solche Gefahr „apokalyptischen Ausmaßes“, spricht von der Aussicht auf ein „Armageddon“, also einer nuklearen Entscheidungsschlacht. Man würde der Panik gerne widersprechen, allerdings nimmt die weltweite Verbreitung von Kernwaffen tatsächlich stetig zu.
US-Präsident Biden denkt bei seinen Worten wohl aber gar nicht einmal an das Bedrohungspotential einer polynuklearen Weltordnung. Seine Worte beziehen sich aktuell vor allem auf die erneuten Androhungen Putins, Atomwaffen und chemische Waffen einsetzen zu wollen, sollte Russland im Krieg gegen die Ukraine weiter angegriffen werden. Anders formuliert: noch weiter in Bedrängnis geraten. Historisch ist der Einsatz von Kernwaffen gut belegt, auch durch Russland. Die UdSSR hat die bislang gewaltigste Bombe der Welt, die AN602-Zar-Bombe in einem Test 1961 gezündet.
Experten glauben aktuell allerdings nicht, dass der Kreml im Ukraine-Krieg solch einen Schritt riskiert. Vor allem der Einsatz von sogenannten „taktischen Atomwaffen“ gilt als wahrscheinlicher. Sie sind mit begrenzter Wirkung nur für das Kriegsgebiet gedacht. Solch eine Waffe könnte Putin etwa über dem Schwarzen Meer zünden, um seine Macht zu demonstrieren und gleichzeitig mit dem ausgelösten elektromagnetischen Puls der Bombe die Kommunikation vor Ort zerstören. Letztere gilt als einer der größten Vorteile der ukrainischen Armee gegenüber den russischen Invasoren.
Taktische Kernwaffen stehen in Abgrenzung zu „strategischen Atomwaffen“, die für das Hinterland des Feindes gedacht sind. Man könnte aber auch legitim von Äpfeln und Birnen sprechen: Auch moderne taktische Atomwaffen haben zum Teil noch ein Vielfaches der Zerstörungskraft im Vergleich etwa zur Hiroshima-Bombe, die 1945 eine ganze Stadt vernichtete.
Auch dies ist ein Grund, warum US-Präsident Biden beim Einsatz der taktischen Waffen vor einer Eskalation warnt, die zum Ende der bestehenden Weltordnung führen könnte.
Russland hat sein nukleares Arsenal stetig aufgebaut, auch wenn ein Großteil der Gefechtskörper nur auf Reserve zur Verfügung steht. Noch immer bleibt die Zahl an einsatzbereiten Raketen zu See und in der Luft erschreckend hoch.
Es ist ausgerechnet dieses wachsende Risiko, das den weiteren Ausbau der Arsenale weltweit schon immer befeuert hat. Eine selbsterfüllende Prophezeiung der Abschreckung und Zerstörung sozusagen. Auch heute gibt es immer mehr Atomwaffen in der Welt. Die Nuklearstaaten lassen sich diese Aufrüstung enorme Summen kosten. Spitzenreiter sind die USA, die für ihre Atomwaffen mehr als 84.000 US-Dollar ausgeben, pro Minute.
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Mit Material von AP
Atomare Konfrontation zwischen Ost und West: Wie groß ist die Gefahr?
Hintergrund ist Russlands Angriffskrieg in der Ukraine, in dem Moskau trotz der jüngsten Annexion von Gebieten zunehmend die Kontrolle verliert. Auf der einen Seite hat Russlands Führung zuletzt mehrfach erklärt, die Eroberungen mit „allen zur Verfügung stehenden Mitteln“ zu verteidigen, was auch den Einsatz von Atomwaffen impliziert. Auf der anderen Seite stehen die Äußerungen des ukrainischen Staatschefs Selenskyj und von US-Präsident Joe Biden. Der eine hat Präventivmaßnahmen gegen einen russischen Atomwaffeneinsatz gefordert. Der andere sagte, die Welt stehe so dicht vor einem Atomwaffenkrieg wie seit der Kuba-Krise 1962 nicht mehr.
Russland hat sowohl strategische als auch taktische Atomwaffen. Strategische Atomwaffen könnten wohl nur zum Einsatz kommen, wenn sich der Krieg in der Ukraine zu einer vollwertigen kriegerischen Auseinandersetzung Russlands mit der Nato ausweiten würde. Taktische Atomwaffen hingegen haben kleinere Sprengköpfe und könnten daher von Russland theoretisch für einen begrenzten Einsatz in der Ukraine eingesetzt werden. Aber auch hier wäre das Eskalationsrisiko wegen der Verstrahlung großer Gebiete gewaltig.
Die Atomdoktrin besagt, dass Moskau Atomwaffen nur als Antwort in zwei Fällen verwendet werden darf: entweder bei einem atomaren Angriff auf Russland oder bei einem Angriff auf Russland mit konventionellen Waffen, der die Existenz des Landes selbst gefährdet. Der zweite Punkt ist auslegungsfähig: Ist die ukrainische Rückeroberung der von Russland annektierten Gebiete aus Moskauer Sicht schon eine Gefährdung der Existenz des Landes? Kremlsprecher Dmitri Peskow hat zuletzt angedeutet, dass dies nicht der Fall sei.
Die meisten Experten halten einen Atomschlag für unwahrscheinlich. Technisch sind die russischen Atomstreitkräfte zumindest auf dem Papier zwar dafür ausgerüstet - es gibt geschätzt rund 6000 taktische Atomsprengköpfe und mehr als 1000 strategische. Doch die Folgen einer solchen Aktion wären auch für Russland selbst ungewiss. Ein taktischer Atomschlag gegen die Ukraine birgt ein unkalkulierbares Eskalationsrisiko.
Zugleich ist unklar, welche militärischen Ziele damit überhaupt erreicht werden können. Ukrainische Militäreinheiten sind nahe der Front, Moskau würde also auch die eigenen Truppen gefährden. Der Einsatz würde zudem das Territorium verseuchen, das Russland beansprucht.
Der Einsatz strategischer Atomwaffen wiederum würde wohl das Ende Russlands bedeuten. Zwar haben Moskauer TV-Propagandisten zu Kriegsbeginn getönt: „Was brauchen wir die Welt, wenn in dieser Welt kein Platz für Russland ist“, um anzudeuten, dass Moskau keine Niederlage in der Ukraine akzeptieren werde. Viele Beobachter halten Kremlchef Wladimir Putin aber für klug genug, nicht den Selbstzerstörungsknopf zu drücken. Und selbst in dem Fall müssten alle unterstellten Offiziere in der Kommandokette mitspielen, was nach den jüngsten Querelen innerhalb der russischen Sicherheitsorgane ebenfalls alles andere als sicher sein dürfte.
In der Ukraine wird die Gefahr russischer Atomschläge unterschiedlich bewertet: Präsident Selenskyj sagte, Moskaus Atomdrohungen seien ernst zu nehmen. Verteidigungsminister Olexij Resnikow hingegen meinte kürzlich in einem Interview: „Wo werden sie diese einsetzen? An der Frontlinie, wo nicht nur ukrainische, sondern auch ihre eigenen Einheiten sind? Im Schwarzen Meer? Dort sind drei Nato-Staaten.“ Bei Treffen mit westlichen Partnern betonte Resnikow: „Hört auf, Russland zu fürchten. Das ist nicht die zweitbeste Armee der Welt, das sind Bettler, Plünderer und Vergewaltiger.“
Um das Risiko eines Atomwaffeneinsatzes für Putin unkalkulierbar zu machen, äußern sich die Verantwortlichen in Nato- und EU-Ländern öffentlich nicht detailliert zu solchen Fragen. Klar ist, dass die Reaktion am Ende davon abhängt, was Russland genau tut. Sollte Putin „lediglich“ einen Atomwaffentest durchführen lassen, um die Ukraine zur Aufgabe ihres Abwehrkampfes zu bewegen, würde sich die Reaktion des Westens vermutlich auf nicht-militärische Maßnahmen wie eine diplomatische Verurteilung und zusätzliche Sanktionen beschränken.
Für den Fall eines russischen Atomwaffenangriffs auf Großstädte wie Kiew gilt hingegen nicht einmal ein direktes Eingreifen der Nato als ausgeschlossen. Sollten alle Bündnispartner zustimmen, könnte die Nato dann etwa versuchen, die russischen Invasionstruppen in der Ukraine militärisch auszuschalten. Ein weitere Option sind nach Angaben aus Bündniskreisen massive Cyberangriffe - zum Beispiel, um kritische Infrastruktur wie die Stromversorgung oder die Kommunikation lahmzulegen. Ein solches Vorgehen gilt auch dann als denkbar, wenn Russland kleinere taktische Nuklearwaffen gezielt gegen die ukrainischen Streitkräfte einsetzen sollte.
„Was soll die Nato tun? Den Einsatz von Atomwaffen durch Russland unmöglich machen“ - mit Sätzen wie diesem hat der ukrainische Präsident Selenskyj am Donnerstag den Anschein erweckt, er fordere von der Nato Präventivschläge gegen Russland. Doch ist ein solches Vorgehen denkbar?
Nein. Die Nato versteht sich als reines Verteidigungsbündnis, das auf keinen Fall zur Kriegspartei werden will - auch aus Sorge vor einem Dritten Weltkrieg. Im aktuellen Strategischen Konzept heißt es so ganz deutlich: „Die Nato sucht keine Konfrontation und stellt für die Russische Föderation keine Bedrohung dar.“ Aus diesen Grund liefern Nato-Staaten bislang auch keine westlichen Kampfpanzer an die ukrainischen Streitkräfte. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg bezeichnete das „atomare Säbelrasseln“ Russlands zuletzt mehrfach als unverantwortlich und gefährlich.
In der Nato wird die Ansicht vertreten, dass der Einsatz von Atomwaffen für Russland militärisch keinen Sinn ergeben würde - vor allem wegen der unkalkulierbaren Folgen. So wird auch darauf verwiesen, dass die Russen im Fall eines offensiven Atomwaffeneinsatzes fürchten müssten, dass sich auch Länder wie China und Indien klar gegen sie stellen.
Vor 60 Jahren – im Oktober 1962 – drohte nach der Stationierung sowjetischer Mittelstreckenraketen auf Kuba eine atomare Eskalation im Kalten Krieg der damaligen Supermächte. Wenige hundert Kilometer vor ihrer Südküste sahen sich die USA einer unmittelbaren Bedrohung ausgesetzt und reagierten mit einer Seeblockade rund um Kuba - verbunden mit der Forderung an die Sowjetunion, die Raketen wieder abzuziehen. Unter der Führung Nikita Chruschtschows willigte Moskau schließlich ein. Bedingung war, dass die USA die sozialistische kubanische Regierung nicht gewaltsam stürzten.