Doch nun zeigt sich: Obwohl der Grundstoffsektor nur noch weniger als zehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts ausmacht, ist Brasiliens Wirtschaftsstruktur einseitig. Sein Export besteht immer noch zu fast zwei Dritteln aus landwirtschaftlichen Produkten und Bodenschätzen. Im vergangenen Jahrzehnt hatte die stürmische Rohstoffnachfrage der aufstrebenden Riesen China und Indien für steigende Preise bei Öl, Nahrungsmittel und Metallen gesorgt und damit Brasiliens Wirtschaftswachstum beschleunigt.
„Das Land ist im Einklang mit der steigenden Nachfrage nach Öl, Kupfer, Eisenerz und anderen natürlichen Ressourcen gewachsen“, analysiert Ruchir Sharma von der Investmentbank Morgan Stanley in einem Beitrag für die Zeitschrift „Foreign Affairs“. „Das Problem ist, dass der globale Appetit für diese Rohstoffe zu fallen beginnt.“
Seit einigen Monaten kühlt nämlich die globale Wirtschaft ab, nicht nur Europa und die USA, auch die Wachstumstreiber China und Indien büßen an Dynamik ein und fragen weniger Rohstoffe nach. Parallel gerieten die Rohstoffpreise unter Druck, sie sind seit Juni 2011 im Schnitt um 17 Prozent gefallen. Mit Ausnahme von Sojabohnen betrifft dies Brasiliens wesentliche Exportprodukte Kupfer, Eisen, Kaffee und Zucker, mit Ausnahme von Sojabohnen.
Die Folge: Die Exporte, die sich auf Dollarbasis zwischen 2006 und 2011 fast verdoppelten und Brasiliens Wirtschaftswachstum anheizten, dürften in diesem Jahr laut HSBC stagnieren. Brasiliens Wirtschaftswachstum ist immer noch eng an das volatile Auf und Ab der Rohstoffmärkte gekoppelt. „Seit den frühen Achtzigerjahren oszilliert Brasiliens Wachstum um 2,5 Prozent jährlich, nur bei steigenden Rohstoffpreisen liegt es darüber“, analysiert Sharma.
Schwache Industrie, zu wenig Investitionen
Die Ursache des niedrigen Trendwachstums liegt in der strukturellen Schwäche des industriellen Sektors. Die HSBC-Ökonomen machen „Probleme bei der Wettbewerbsfähigkeit“ der Industrie aus. So ist der Anteil der Verarbeitenden Industrie von 16,5 Prozent des BIP 2004 bis 2010 auf 13,5 Prozent geschrumpft. Zwar wuchs die Industrieproduktion 2010, im ersten Jahr nach der Weltwirtschaftskrise, um mehr als zehn Prozent, aber seitdem stagniert sie.
Für die brasilianische Wirtschaft insgesamt diagnostiziert Sharma eine „chronische Unterinvestition“. Die gesamtwirtschaftlichen Investitionen liegen mit einem Anteil von 19 Prozent am unteren Ende der Schwellenländer. Nur zwei Prozent seines BIP investiert Brasilien, um seine unterentwickelte Infrastruktur zu modernisieren. Im Schnitt liegt dieser Wert für die Schwellenländer bei fünf Prozent.
Dazu kommt ein eklatanter Fachkräftemangel, Resultat eines mangelhaften, unterfinanzierten Bildungswesens. Im Schnitt verbringen die Jugendlichen nur sieben Jahre in der Schule, die niedrigste Rate in den Ländern mit mittlerem Einkommen. Die Ignoranz von Bildung geht einher mit einer immer noch vorherrschenden „kolonialen Mentalität“ beim Arbeitsethos, die Alexander Busch so beschreibt: „Jeder Brasilianer, von der Putzfrau bis zum Unternehmer, fühlt sich erst dann richtig erfolgreich, wenn andere die Arbeit für ihn erledigen.“