Typisch Angela Merkel. Die Bundeskanzlerin hat nur das Nötigste gesagt. Die Untersuchungshaft für „Welt“- Korrespondent Deniz Yücel sei „bitter und enttäuschend“, außerdem „unverhältnismäßig hart, zumal Deniz Yücel sich der türkischen Justiz freiwillig gestellt und für die Ermittlungen zur Verfügung gestellt hat.“ Die Bundesregierung erwarte, dass die türkische Justiz im Fall Yücel „den hohen Wert der Pressefreiheit für jede demokratische Gesellschaft“ berücksichtige. „Wir werden uns weiter nachdrücklich für eine faire und rechtsstaatliche Behandlung Deniz Yücels einsetzen und hoffen, dass er bald seine Freiheit zurückerlangt.
Zitate von Deniz Yücel
„Die AKP von heute ist kaum mehr als Erdogans Privateigentum. Dass er es geschafft hat, seine Partei derart unter seine Kontrolle zu bringen, liegt am Parteienrecht […], das jeden Parteichef zu einem König macht. Und es liegt am System von Begünstigungen und ökonomischen Abhängigkeiten, das er erschaffen hat und schließlich an seiner Politik der Polarisierung.“
„Nur klingt das Wort von der ‚Demokratie‘ in der Türkei der Gegenwart immer fremder. Welche demokratischen Rechte kann es für die Kurden in Tayyipistan geben? Um welche Demokratisierung kann es gehen in einem Land, in dem parallel drei Prozesse stattfinden – die Islamisierung der Gesellschaft, die Autoritarisierung des Staates und die Entfaltung eines entfesselten Kapitalismus.“
„Niemand in der Türkei, der alle Tassen im Schrank hat, ist dagegen, diesen Krieg [zwischen der türkischen Regierung und der PKK, Anmerkung der Redaktion] endlich zu beenden. Aber mehr und mehr linke und liberale Oppositionelle sehen diesen Aussöhnungsprozess inzwischen kritisch – nicht weil sie ihn grundsätzlich ablehnen, sondern der Regierung wie der PKK vorwerfen, diesen Prozess nicht transparent zu gestalten.“
„‚Eine Tonleiter umfasst sieben Töne. Die Frage, welcher der Töne ,besserʻ sei: Do, Re oder Mi, ist eine unsinnige Frage. Der Musikant muss aber wissen, wann und auf welche Taste er zu schlagen hat.ʻ Dieses in einem anderen Zusammenhang gesagte Wort von Trotzki habe ich stets für eine gute Maxime beim Schreiben und Blattmachen gehalten.“
„So gibt es einige wenige Texte, von denen ich wünschte, ich hätte sie geschrieben. Und es gibt einige Texte und Formulierungen, die ich besser nicht geschrieben hätte.“
Wie bitte? Die Bundesregierung hofft, dass Yücel bald seine Freiheit zurückerlangt? Nein, die Kanzlerin sollte seine Freilassung fordern. Nicht irgendwann, sondern sofort – ohne Wenn und Aber. Schluss mit höflichen Formulierungen!
Nicht viel anders der Noch-SPD-Chef: Sigmar Gabriel ist voll in seiner neuen Rolle als oberster Chefdiplomat der Bundesregierung angekommen und sprach von „schwierigen Zeiten für die deutsch-türkischen Beziehungen“. Der Fall Deniz Yücel werfe „ein grelles Schlaglicht auf die Unterschiede, die unsere beiden Länder offensichtlich bei der Anwendung rechtsstaatlicher Grundsätze und in der Bewertung der Presse- und Meinungsfreiheit haben.“ Schön beschrieben, Herr Außenminister. Aber auch hier fehlt die unmissverständliche Aufforderung an die Türkei, Yücel müsse freigelassen werden - und zwar sofort.
Probleme im deutsch-türkischen Verhältnis
Im Juni 2016 beschließt der Bundestag eine Resolution, die die Gräuel an den Armeniern im Osmanischen Reich vor 100 Jahren als Völkermord einstuft. Die Türkei reagiert erbost und unter anderem mit dem Besuchsverbot für Incirlik. Kanzlerin Angela Merkel erklärt Anfang September, die Resolution sei rechtlich nicht bindend - aus Sicht Ankaras die geforderte Distanzierung von dem Beschluss. Das Besuchsverbot wird aufgehoben, doch vergessen ist die Resolution nicht.
Die Türkei hat sich verärgert darüber gezeigt, dass sich nach dem gescheiterten Putsch keine hochrangigen Mitglieder der Bundesregierung zum Solidaritätsbesuch haben blicken lassen. Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) plant zwar einen Besuch, der aber immer noch nicht stattgefunden hat. Der türkische EU-Minister Ömer Celik kritisiert, stattdessen seien aus Deutschland vor allem Mahnungen zur Verhältnismäßigkeit gekommen: „Bei hundert Sätzen ist einer Solidarität mit der Türkei, 99 sind Kritik.“
Ankara droht immer wieder damit, die Zusammenarbeit mit der EU in der Flüchtlingskrise aufzukündigen. Hintergrund ist unter anderem eine EU-Forderung, die Türkei müsse Anti-Terror-Gesetze reformieren, damit diese nicht politisch missbraucht werden. Ohne diese Reform will die EU die Visumpflicht für Türken nicht aufheben - ohne Visumfreiheit aber fühlt sich Erdogan nicht an die Flüchtlingsabkommen gebunden.
Auf Betreiben Erdogans beschließt das türkische Parlament, vielen Abgeordneten die Immunität zu entziehen. Betroffen ist vor allem die pro-kurdische HDP, die Erdogan für den verlängerten Arm der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK hält. Parlamentariern droht Strafverfolgung - für Merkel „Grund tiefer Besorgnis“. Apropos PKK: Ankara fordert ein härteres Vorgehen gegen PKK-Anhänger in der Bundesrepublik, wo die Organisation ebenfalls verboten ist.
Auf der Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen lag die Türkei schon vor dem Putschversuch und dem anschließend verhängten Ausnahmezustand auf Platz 151 von 180 Staaten. Seitdem sind Dutzende weitere Medien geschlossen worden. Für Aufregung sorgt zudem, dass der türkische Sportminister Ende September die Aufnahme eines Interviews mit der Deutschen Welle konfiszieren lässt. Die Deutsche Welle klagt auf Herausgabe.
Ankara fordert von Deutschland die Auslieferung türkischer Anhänger des Predigers Fethullah Gülen, den die Regierung für den Putschversuch von Mitte Juli verantwortlich macht. Neuer Streit ist damit programmiert.
Yücel war am Montag nach knapp zwei Wochen im Polizeigewahrsam in Untersuchungshaft genommen worden. Die kann bis zu fünf Jahre dauern. Dem 43-jährigen werden laut „Welt“, für die er als Korrespondent aus der Türkei berichtet, „Propaganda für eine terroristische Vereinigung und Aufwiegelung der Bevölkerung“ vorgeworfen.
Warum reagiert die Bundesregierung nicht entschiedener? Der Flüchtlingsdeal, den Präsident Recep Tayyip Erdoğan womöglich aufkündigen könnte, wenn die Bundesregierung ihn zu hart kritisiert, ist kein Argument. Erdogan hat kein Interesse daran, die Zusammenarbeit mit den Europäern zu beenden. Er braucht die Milliarden-Hilfszahlungen der EU und will ein neues Massensterben im Mittelmeer verhindern. Das Erpressungspotential, welches Erdogan zugeschrieben wird, hat er in Wirklichkeit nicht. Natürlich brauchen wir die Hilfe der Türkei, damit sich die Flüchtlingskrise nicht wieder verschärft. Aber die Türkei sitzt dabei nicht am längeren Hebel.
Nicht verhandelbar
Im Gegenteil: Die Europäer und insbesondere die Deutschen können sogar Druck aufbauen. Wie der Spiegel kürzlich berichtete, bittet die Erdogan-Regierung Deutschland um Hilfe, um die schwierige wirtschaftliche Lage unter Kontrolle zu bekommen. Demnach hofft die Türkei wieder auf mehr Besucher aus Deutschland und ganz Europa, die die Binnenkonjunktur der Türkei stärken würden. Auch Kredite und Hilfszahlungen waren demnach im Gespräch.
U-Haft für Journalist sorgt für Spannungen mit Türkei
Hier muss die Bundesregierung ansetzen. Sollten die Türken Yücel nicht freilassen, müsste Berlin dem Wunsch nach mehr wirtschaftlicher Kooperation und Zusammenarbeit mit der Türkei ablehnen. Ja, die Türkei ist ein strategischer Partner. Über die Nato sind wir sogar militärische Partner. Aber wenn die Türkei die Pressefreiheit verletzt und einen deutschen Journalisten festsetzt, sind Sanktionen gegen die Türkei ein schmerzhafter aber logischer Schritt.
Manche sagen nun, Yücel sei nicht nur Deutscher, sondern auch Türke. Warum sollten wir uns also überhaupt einmischen? Es stimmt, Yücel hat zwei Pässe. Er ist der Sohn eines türkischen Einwanderers, wurde in der Nähe von Frankfurt geboren und arbeitet für eine deutsche Zeitung. Der Fall Yücel ist also keine innertürkische Angelegenheit, es ist ein deutsch-türkischer Stresstest.
Visumfreiheit: Was die EU von der Türkei verlangt
Dürfen türkische Staatsbürger irgendwann ohne Visum nach Europa reisen oder nicht? Die Antwort auf diese Frage kann nach Auffassung der EU-Kommission nur die Regierung in Ankara geben. Die Brüsseler Behörde sah in ihrem jüngsten offiziellen Bericht noch 5 der 72 Vorgaben für eine Visaliberalisierung als nicht erfüllt an.
In der Türkei wurde am 30. April eine neue Strategie dazu beschlossen. Im jüngsten Bericht stellten Experten der EU-Kommission allerdings fest, dass noch mehr getan werden müsse, um Korruption unter Parlamentariern, Richtern und Staatsanwälten zu verhindern. Dabei geht es unter anderem um Vorgaben zur Parteienfinanzierung und zur Unabhängigkeit der Justiz. Die EU weist dabei auf ein Gutachten der „Staatengruppe gegen Korruption“ (Greco) hin.
Laut der Darstellung im Fortschrittsbericht hatten die türkische Behörden bis zuletzt lediglich die Absicht erklärt, künftig enger mit den Behörden in EU-Staaten zusammenzuarbeiten, um die in der Türkei geltenden Rechtsvorschriften und Verfahren zu erklären. 2014 und 2015 wurden türkischen Statistiken zufolge 49 Auslieferungsanträge aus EU-Ländern gestellt, ein Großteil davon wurde noch nicht abschließend bearbeitet. Nur sechs Anträge wurden genehmigt.
Bei der jüngsten offiziellen Bestandsaufnahme lag der EU lediglich ein Absichtsbekundung der Türkei vor.
Ein im Frühjahr beschlossenes Gesetz entspricht nach Auffassung der EU-Kommission nicht den Anforderungen. Es sei nicht sichergestellt, dass die Datenschutzbehörde unabhängig handeln könne, lautete die Kritik. Es wurde gefordert, dass die neuen Datenschutzregeln auch für Strafverfolgungsbehörden gelten müssen.
Dies ist der umstrittenste Punkt. Die EU verlangt von der Türkei den geltenden Rechtsrahmen und die Standards zur Bekämpfung von organisierter Kriminalität und Terrorismus zu überarbeiten. So soll unter anderem die Definition von Terrorismus enger gefasst werden, um auszuschließen, dass auch missliebige Journalisten oder politische Gegner verfolgt werden können. Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan hat jedoch zuletzt deutlich gemacht, dass er im Gegenzug ein härteres Vorgehen gegen die verbotene Kurdische Arbeiterpartei PKK in Europa erwartet.
Bislang hat die Bundesregierung mahnende Worte gewählt. Doch was Yücel in der Türkei erwartet, hat mit einem rechtsstaatlichen Verfahren wie wir es kennen nichts zu tun. Dass sich deutsche Diplomaten im Hintergrund um eine Lösung bemühen, ist gut und richtig. Aber im Fall Yücel braucht es nicht nur Diplomatie. Unsere Bundesregierung muss die Werte unseres Grundgesetzes offen verteidigen. Das Recht auf freie Meinungsäußerung ist ein Menschenrecht, das nicht verhandelbar ist. Das sollte die Kanzlerin dem türkischen Präsidenten sagen.