Nach der Teilmobilmachung durch den Kremlchef – 300.000 Reservisten will Putin in den kommenden Tagen einziehen – wollen offenbar viele Russen das Land verlassen. Das zeigen zum einen Auswertungen von Flugbuchungsportalen, wonach Preise für Flüge exorbitant in die Höhe geschossen sind. Zu bestimmten Zielen wie Istanbul oder Belgrad gibt es für die nächsten Tage nur wenige Tickets. Am Freitagmittag waren Flüge nach Belgrad für die nächsten zwei Tage sogar ganz ausverkauft.
Zum anderen kursieren Videos von langen Staus in Nachbarländer. In Länder wie Serbien oder die Türkei können Russen visafrei einreisen, genauso wie in die an Russland angrenzenden Staaten Aserbaidschan, die Mongolei, Kasachstan und Georgien.
Georgien scheint aktuell überaus populär bei Ausreisewilligen zu sein: An der Grenze zu dem Land gab es am Freitagmittag dem russischen Google-Pendants Yandex Maps zufolge einen rund 15 Kilometer langen Stau, Daten von Google Maps zeigen diesen ebenfalls. Der Grenzübergang liegt hier mitten im Hochgebirge Kaukasus, neben dem 5054 Meter hohen Berg Kazbek und nahe der russischen Stadt Verkhnii Lars. Die Straße führt weiter in die georgische Hauptstadt Tiflis.
Auch Internetvideos sollen den kilometerlangen Stau in der gebirgigen Strecke zeigen. Zeitpunkt und Ort lassen sich an dieser Route jedoch schwer bestätigen. Seit einigen Tagen machen auch Falschnachrichten die Runde, wie ein angeblich 35 Kilometer langer Stau am russisch-finnischen Grenzübergang Vaalimaa. Die WirtschaftsWoche hatte hierüber bereits berichtet.
Fliehen die Russen auch in die Mongolei?
Am Übergang Kjachta an der russisch-mongolischen Grenze scheint derzeit kein vergleichbarer Andrang zu herrschen – zumindest, was die Verkehrsdaten von Yandex Maps angeht. Google Maps ist in dieser Weltregion nicht weit genug verbreitet, die Datenlage also zu dünn, um ein klares Bild abzugeben. Allerdings lässt auch eine niedrig aufgelöste Satellitenaufnahme vom Donnerstag hier nicht auf ein riesiges Verkehrsaufkommen schließen, allenfalls auf ein paar 100 Meter Stau.
Bei mehreren Internetvideos, die sich aktuell stauende Autos direkt am Übergang Kjachta zeigen sollen, lässt sich der Ort anhand von Satellitenbildern bestätigen. Straßenführung und Verkehrsinseln entsprechen in ihrer Form der Grenzstation auf russischer Seite. Wann diese Aufnahmen entstanden sind und wie lang der gezeigt Stau ist, lässt sich anhand des Videomaterials allerdings nicht bestimmen. Zu sehen ist jeweils nur eine wenige 100 Meter lange Autoschlange, bevor die Videos enden.
Teilmobilmachung und Annexionen: Was Russland jetzt konkret vorhat
Der Erlass zwingt Russen zur Kriegsteilnahme, die bislang – zumindest theoretisch – freiwillig war. Eingezogen werden sollen 300.000 Reservisten, und zwar ab sofort. Laut Angaben des Verteidigungsministeriums vom Mittwoch sind ehemalige Wehrpflichtige sowie Zeitsoldaten mit Mannschaftsdienstgrad im Alter bis 35 Jahre und Reserveoffiziere der unteren Dienstgrade bis 45 Jahre betroffen. In erster Linie sollen demnach Männer mit Kampferfahrung und einer militärischen Spezialausbildung in den Krieg geschickt werden. Insgesamt gebe es 25 Millionen Reservisten in Russland, hieß es.
In der Bundesrepublik Deutschland gab es eine solche Teilmobilisierung für den Kampfeinsatz noch nie. Nur für Übungen wurde in der Vergangenheit eine größere Zahl Reservisten eingesetzt.
Russlands Gouverneure wurden direkt angewiesen, die Einberufung von Soldaten in ihren Regionen zu organisieren. Zur Durchsetzung der Mobilmachung hat Putin zudem gerade erst mehrere Gesetze verschärfen lassen. So werden Fahnenflucht und der „freiwillige“ Eintritt in die Kriegsgefangenschaft nun hart bestraft.
Außerdem dürfen wehrpflichtige Russen nach Putins Befehl zur Teilmobilmachung ihren Wohnort laut Gesetz nicht mehr verlassen. Aus der Staatsduma hingegen hieß es, innerhalb Russlands könnten die Menschen trotzdem weiterhin ungestört reisen, Auslandsreisen seien nun aber nicht mehr zu empfehlen.
Noch immer ist in Moskau offiziell nur die Rede von einer „militärischen Spezial-Operation“ in der Ukraine – und sie hat dem Kreml wohl bisher nicht annäherend das erhoffte Ergebnis gebracht. Nach sieben Monaten Krieg hat Russland zwar im Osten und im Süden der Ukraine größere Gebiete erobert, musste zuletzt aber auch eine herbe Schlappe hinnehmen: Unter dem Druck ukrainischer Gegenoffensiven zogen sich russische Truppen fast komplett aus dem nördlichen Gebiet Charkiw zurück. Auch in anderen Regionen droht den russischen Besatzern die Kontrolle zu entgleiten.
Zudem sind die Verluste laut unabhängigen Beobachtern deutlich höher als die nun von Verteidigungsminister Sergej Schoigu eingeräumte Zahl von knapp 6000 toten russischen Soldaten. Vor diesem Hintergrund hofft Putin wohl, mit den nun mobilisierten Reservisten eine Wende auf dem Schlachtfeld herbeiführen zu können. Und er dürfte auch darauf spekulieren, dass seine jüngsten Drohgebärden die Ukraine und deren westliche Unterstützer einschüchtern.
Laut Prognosen internationaler Militärexperten dürfte Russland länger brauchen als erwartet und nur Verbände mit zweifelhafter Kampfkraft aufstellen können. „Die Teilmobilisierung wird sich on the ground erst in einigen Monaten wirklich auswirken“, sagt die Grünen-Politikerin Sara Nanni. Der US-Militärexperte Rob Lee meint auf Twitter, dass auf russischer Seite dann immer mehr Soldaten am Kampf beteiligt seien, die dort nicht sein wollten. Sein Fazit: „Zwischen ukrainischen und russischen Verbänden wird der Unterschied in der Moral und dem Zusammenhalt der Truppe immer größer.“
In Kiew wurde die Ankündigung aus Moskau betont gelassen zur Kenntnis genommen. Der externe Berater des ukrainischen Präsidentenbüros, Mychajlo Podoljak, fragte auf Twitter: „Läuft immer noch alles nach Plan oder doch nicht?“ Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte bereits im Vorfeld betont, die Ukraine lasse sich nicht einschüchtern. Zudem dürften in den kommenden Monaten auch auf ukrainischer Seite frische Kräfte eintreffen. So läuft etwa die Ausbildung ukrainischer Soldaten in Großbritannien und anderen westlichen Staaten.
Hochrangige Politiker aus dem Westen werten Putins Ankündigung als „Zeichen der Schwäche“ und als „Akt der Verzweiflung“ wegen der jüngsten militärischen Misserfolge Russlands. Kanzler Olaf Scholz sagte, Putin habe die Situation von Anfang an „komplett unterschätzt“. Offen ist aber, wie westliche Staaten abseits von Worten mit der neuen Eskalation umgehen - insbesondere mit Putins Drohung, notfalls auch Atomwaffen einzusetzen. Bislang wurden weitreichende Sanktionen gegen Russland verhängt und die Ukraine mit Waffen und Munition versorgt. Ein direktes militärisches Eingreifen des Westens gilt aber als ausgeschlossen.
Seit Kriegsbeginn haben viele Russen Angst vor einem solchen Schritt des Kremls gehabt. Unabhängige Organisationen richteten am Mittwoch direkt Beratungs-Hotlines für Männer ein, die einen Einberufungsbescheid erhalten. Viele Flüge in aus Russland noch erreichbare Länder waren ausgebucht. In mehreren Städten wurde zu Protesten aufgerufen, die aber nicht groß ausfallen dürften. Zum einen hat der Kreml Repressionen gegen Kritiker zuletzt massiv ausgeweitet. Zudem haben Russlands Staatsmedien den Bürgern monatelang eingebläut, das Land werde von der Nato und dem „kollektiven Westen“ angegriffen – und die Verteidigung dagegen sei nun eine patriotische Pflicht.
Eine solche Autoschlange ist zwar älteren Satellitenbildern zufolge durchaus ungewöhnlich für Kjachta, belegt aber noch keine massenhafte Flucht von Russen, um sich der Einberufung zum Kriegsdienst entziehen.
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