Flüchtlinge in Calais Frankreich setzt auf Abschreckung und riskiert Verfassungskrise

In Frankreich streiten sich das höchste Gericht und die Politik über die Behandlung von Flüchtlingen in der Stadt Calais. Das Gericht fordert Menschenwürde, die Ordnungshüter wollen kein neues Camp entstehen lassen.

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Frankreich setzt auf eine harte Linie der Abschreckung. Quelle: Reuters

Paris In Frankreich kommt es zum offenen Streit zwischen dem Staatsrat, dem höchsten Gericht des Landes, und der Politik. In einem Urteil hat der Staatsrat am heutigen Montag die Regierung und die Stadt Calais verpflichtet, für eine menschenwürdige Behandlung der Flüchtlinge dort zu sorgen.

Beide Ebenen der Exekutive hatten sich gegen eine Entscheidung des Verwaltungsgerichts in Lille gewandt, dass sie bereits verpflichtete, zumindest Trinkwasser, Duschen und Toiletten bereitzustellen. Die Bürgermeisterin von Calais gab umgehend bekannt, sie werde auch den Spruch des höchsten Gerichts missachten: „Das ist in den Augen der Bürger von Calais keine Gerechtigkeit.“

Innenminister Gérard Collomb reagierte sibyllinisch: Er werde zwei Zentren für die Betreuung der Migranten einrichten. Der eine Ort ist allerdings 81 Kilometer, der andere 85 Kilometer von Calais entfernt. Wie diese Zentren die Versorgung der Flüchtlinge in der Stadt an der Kanalküste verbessern sollen, ist das Geheimnis des Innenministers. Calais ist der Hafen, von dem aus die Menschen nach England kommen wollen. Nach den Worten des Staatsrats werden sie in Calais „inhuman und erniedrigend“ behandelt.

Der Innenminister liefert sich seit Monaten ein Katz-und-Maus-Spiel mit den Migranten, die vor allem aus Afghanistan, dem Sudan und Eritrea stammen sowie den Hilfsorganisationen wie „l’Auberge des Migrants“. Die haben, seit das große Lager im November 2016 geräumt wurde, die Versorgung der nach und nach zurückkehrenden Menschen übernommen. Der Staat unterstützt sie nicht dabei, sondern behindert sie: „Wenn wir Essen ausgeben, kommt die Polizei und sprüht Tränengas auf die Umstehenden“, beklagt Christian Salomé von l’Auberge des Migrants. Zelte und Habseligkeiten der Obdachlosen würden regelmäßig von der Polizei vernichtet.

Die Ordnungshüter verfolgen eine klare Strategie: In Calais soll kein neues Camp entstehen, die Flüchtlinge sollen sich nicht festsetzen. Collomb hat die Linie seiner Vorgänger nahtlos fortgesetzt, sie sogar verschärft. Bei einem Besuch vor Ort bezeichnete er die sich wieder in Calais sammelnden Gestrandeten als „Zysten“.

Präsident Emmanuel Macron duldet das Vorgehen seines Innenministers stillschweigend, hält aber gleichzeitig wie zuletzt am Donnerstag vergangener Woche Reden, in denen er ankündigt, kein Flüchtling in Frankreich werde schutzlos bleiben. Die Realität nicht nur in Calais, sondern auch in der Hauptstadt Paris sieht völlig anders aus. Mit dem Urteil des Staatsrates allerdings dürfte es der Regierung schwerer fallen, bei ihrer harten Linie der Abschreckung zu bleiben: Sie riskiert damit, eine Verfassungskrise heraufzubeschwören.

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