Görlachs Gedanken
Quelle: imago images

Erleben wir in Hongkong die Geburt einer neuen Nation?

Der Streit um das Auslieferungsgesetz hat Hongkong in eine tiefe politische Krise gestürzt. Aktuell scheint die Regierung nachzugeben. Doch damit geben sich die Demonstranten nicht zufrieden.

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Die kommunistische Führung hat fürs Erste nachgegeben. Das umstrittene Auslieferungsgesetz aus Hongkong in die Volksrepublik China kommt nicht. Die Hongkonger demonstrieren weiter, für die Absetzung der jetzigen Führung des Stadtstaates. Für Peking steht viel auf dem Spiel: Durch das Verhalten der Zentralführung unter Präsident Xi in den vergangenen Jahren hat sich in der autonomen Region der Wille zur Abspaltung und zur Unabhängigkeit etabliert. Die Situation ist eskaliert, weil sich Peking an die Verträge, die bei der Übergabe Hongkongs an China unterzeichnet wurden, nicht mehr halten möchte.

Jedes Mal, wenn Peking versucht, die Menschen weiter zu unterdrücken und zu drangsalieren, kommt es zu Demonstrationen, wie im Jahr 2014. Damals stellten sich mutige Studierende in der sogenannten „Regenschirm-Bewegung“ der Polizei entgegen und setzten sich für die Wahrung ihrer demokratischen Rechte ein.

Nunmehr ist die Lage wieder eskaliert. Das „Auslieferungsgesetz“ hätte aus Hongkong einen kompletten Polizeistaat gemacht und jede Unabhängigkeit der Region vernichtet.

Bei den Massenprotesten in den vergangenen Wochen hatten nach unterschiedlichen Schätzungen zwischen Hunderttausenden und einer Million Hongkonger für die Absetzung der jetzigen Führung des Stadtstaates demonstriert. Quelle: REUTERS

Es lohnt sich, einen Moment darüber nachzudenken, was geschehen würde, wenn Hongkong nun tatsächlich die Unabhängigkeit erklärte. Zu allererst müsste dafür die jetzige Führung, die in Verwaltung und Polizei bereits maßgeblich von Peking beeinflusst wird, einen Wechsel herbeiführen. Dass dies geschieht, zumal kampflos, ist unwahrscheinlich. Die Demonstranten, immerhin mehr als eine Million der sieben Millionen Hongkonger, streben aber genau das an und fordern die Absetzung der Stadtspitze.

Welches wären denn die inhaltlichen Gründe, die für eine Unabhängigkeit sprächen? In Hongkong spricht man Kantonesisch und gibt viel auf die eigenen Sitten und Gebräuche. Im China vor Xi Jinping konnten sich die verschiedenen Ethnien und Kulturen auch noch eher wiederfinden als nun, wo von Peking die Devise ausgegeben wird, dass nur ein Han-Chinese ein echter Chinese ist. Es gibt 56 Ethnien in China, die Han-Chinesen bilden die größte Gruppe.

Erleben wir also, dass durch die Unterdrückung der Hongkonger Identität und Kultur ein legitimer Moment erwächst, sich vom Unterdrücker loszueisen? Eine Nation ist, in unserem demokratisch-freiheitlichen Sinne, eine, die unter dem Primat der Menschenrechte eine Verfassung und durch sie eine Rechtsordnung etabliert, die die Würde des Menschen, seine Identität, zu schützen in den Mittelpunkt stellt. Hongkong hat das „Basic Law“, seine Verfassung, in der das entsprechend geregelt ist. Wenn nun dieser Schutz der Würde und der voraussetzungslos gegebenen Menschenwürde nicht mehr von Peking gewährleistet wird, dann entsteht in der Tat ein legitimer Anspruch auf Unabhängigkeit. Eine Nation baut sich eben nicht aus ethnisch gleichen auf, wie Herr Xi meint, sondern auf der Grundlage der Staatsbürgerschaft, die allen, die auf dem Territorium des Landes leben, die gleichen Rechte einräumt.

Zum Vergleich: Vor diesem Hintergrund wird das Bestreben in Katalonien als populistisches Aufwiegeln entlarvt, dass es denn auch wahr. Ein illegitimer Ruf nach Unabhängigkeit, den die spanische Verfassung garantiert und so wird es auch in ganz Spanien gelebt, dass jede Region ihre Eigenarten behalten und leben darf. Unter Francos Diktatur war das nicht so und deshalb hat die baskische Terrororganisation ETA ihr schreckliches Morden betrieben. Im Baskenland sind heute die Menschen froh, nicht mehr unter ständigem Terror leben zu müssen.

Die Regierung in Hongkong hat das Auslieferungsgesetz auf Eis gelegt, trotzdem gehen die Proteste in der Metropole weiter. Quelle: REUTERS

Entsprechend wurde das Vorgehen im nahegelegenen Katalonien – ich war im Sommer 2017 als Gast an der Universität des Baskenlandes eingeladen – auch zwiespältig aufgefasst. Zum einen gibt es noch einen gewissen Reflex gegen die Madrider Staatsgewalt, zum andern ist es aber vielen Basken auch bewusst, dass die Katalanen heute gut und in Frieden leben und das Land bei weitem nicht in einem Zustand ist, in dem es zu Francos Zeiten war.

Zurück nach Hongkong und es wird klar, warum es in dieser autonomen Region allen Grund geben könnte, die Unabhängigkeitsbestrebungen weiter zu nähren, sollte Peking nicht einlenken und sich an die von ihm selbst eingegangen vertraglichen Verpflichtungen halten.

Wie müsste sich der Westen verhalten? Für uns ist der liberale Nationalstaat der Leitstern: Auf der Grundlage der Menschenrechte werden den Staatsbürgern eines Landes bürgerliche und soziale Freiheiten zuteil. Diese Gleichheit gilt unabhängig von Geschlecht, Alter, Religion, sexueller Orientierung, sie fußt in der Tat auf nichts anderem als den Menschenrechten. Der „nackte Mensch“, wie er uns in der Philosophie beispielsweise eines Claude Levi-Strauss vorgestellt wird, ist einer, den es zu schützen gilt. Seine Existenz wäre ohne die Existenz schützender Strukturen, wir denken an den Staat, unter dauernder Bedrohung. Er wäre nicht in der Lage sich zu entfalten und als Mensch zu leben.

Die Legitimität einer Nation besteht also darin, diesen Schutz bereitzustellen, für ihre Bürger in erster Linie, und dann abgeleitet auch allen Gästen, denn auch sie sind ja Menschen. Auf dieser Überzeugung ruht die ganze internationale, freiheitliche Ordnung: Deshalb kann ein Deutscher nach Taiwan reisen und ein Kanadier nach Spanien und sie stehen überall in dem Verbund liberaler Nationalstaaten unter dem Leitstern der Menschenrechte. Hongkong erkennt die Menschenrechte an und seine Bürger möchten nach ihnen leben. In der Volksrepublik ist das Gegenteil der Fall. Vielleicht erleben wir im Moment die Geburt einer neuen Nation.

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