Literaturempfehlungen Diese China-Bücher müssen Sie lesen!

Diese China-Bücher müssen Sie lesen! Quelle: Getty Images

Die meisten Veröffentlichungen über das Reich der Mitte sind steil kommentierte Kompilationen der Nachrichtenlage. Wir empfehlen acht Ausnahmen.

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Bücher über China gibt es fast so viele wie Phrasen über China. In den meisten von ihnen ist von einer „historischen Zeitenwende“ die Rede und einer „tektonischen Plattenverschiebung“, von der „multipolaren Welt“ und vom „pazifischen Zeitalter“, von der „neuen Supermacht China“ und vom „unaufhaltsamen Aufstieg Asiens“, vom „Masterplan“ der Kader für die Übernahme der „Weltherrschaft“. Was man halt so schreibt, wenn gut 200 Seiten gefüllt werden müssen. Am besten, man spart sich diese Bücher. Sie sind voller Ausrufezeichen, Redundanzen, Plattitüden: steil kommentierte Kompilationen der Nachrichtenlage. Wer sich wirklich für die „Herausforderung“ China interessiert, sollte daher etwas tiefer schürfen als „Huawei“ und „Hongkong“, „Überwachungsstaat“ und „Sozialpunktesystem“, „Datendiebstahl“, „Know-How-Transfer“ und „Seidenstrasse“. Acht Tipps für eine wirklich lohnende China-Lektüre.

Der beste Ausgangspunkt für eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Land ist immer noch „Die chinesische Welt“ von Jacques Gernet, ein Klassiker, ein Monolith. Der französische Sinologe hat die Universalgeschichte bereits in den Siebzigerjahren geschrieben. Und man lernt darin etwa, dass sich die politische Kultur Chinas vor allem durch ihre Absorptionsfähigkeit auszeichnet: Das historische China ließ sich mit (nicht gegen) mongolische und europäische Ideen impfen und stärkt bis heute sein kulturelles Immunsystem, indem es sich erwünschte Lehren anverwandelt, ungewollte Fremdimporte aussperrt.

„Die chinesische Welt“ von Jacques Gernet ist 1988 bei Suhrkamp erschienen. Quelle: Presse

Wer das vor dreißig Jahren las, konnte schon damals nur lachen über die Blödheit der Formel vom „Wandel durch Handel“, über die arrogante Naivität der Hoffnung, China werde seine kulturelle Identität amerikanischen Abziehbildern von Freiheit und Demokratie opfern. Der Nachteil von Gernets Grundlagenwerk: Nur wer sich für die Qin-, Han-, Song- und Ming-Dynastien so sehr interessiert wie etwa ein Freund des deutschen Mittelalters für die Franken, Salier, Staufer oder Welfen, wird sich auf den fast 600 eng beschriebenen Seiten jederzeit bestens bedient fühlen.

Alle anderen greifen zur Länderkunde des alten Asienexperten Oskar Weggel. Die fünfte Auflage mit dem schlichten Titel „China“ stammt aus dem Jahr 2002 und ist aus guten Gründen noch gebraucht erhältlich: ein Buch über die Eckpfeiler des chinesischen Gesellschaftssystems, das sich elementar unterscheidet vom Europa seit Renaissance und Aufklärung: Selbstzügelung statt Selbstverwirklichung. Harmoniestreben statt Streitkultur. Sittenkodex statt Rechtssicherheit. Berechenbarkeit statt Spontaneität. Sozialrechte statt Menschenrechte.

Weggels Buch hat nicht zuletzt den großen Vorzug, bei westlichen Lesern laufend Selbstbefragungen zu provozieren. Man lernt mit ihm das traditionell engmaschige Netz der Beziehungen und der zellular wirkenden Dorfstrukturen in China kennen, den Geist der Einpassung, auch das Konzept einer Erziehung, die dauernde Ehrfurcht vor dem Hergebrachten vermittelt – und natürlich die Kernelemente der konfuzianischen Tugendlehre: Achtung vor den Vätern, respektvolle Höflichkeit, ergebenes So-Sein-Sollen.

„China“ von Oskar Weggel ist 2002 in neubearbeiteter Edition im Verlag C.H.Beck erschienen. Quelle: Presse

Aber gibt es so etwas heute wirklich noch: einen kollektiven Charakter, eine Nationalseele, eine Art „Volkspsychologie“? Und selbst wenn: Dienen derlei Beschreibungen heute nicht vor allem den kommunistischen Kadern zur Rechtfertigung, ihre Untertanen wie Gehorsamszwerge zu regieren? Teils, teils. Nehmen wir ein Beispiel: „Das Erlernte immer wieder einzuüben, ist die höchste Freude“, sprach Konfuzius – gewiss, darüber kann man sich hierzulande gleich doppelt erheben: mit Blick zurück auf die eigene Struwwelpeter-Vergangenheit und mit Blick auf das linierte Lernprogramm in chinesischen Schulen. Und gewiss: Den kulturellen Rekurs auf Konfuzius muss man mit Blick auf die Umerziehungslager in der chinesischen Provinz Xinjiang vor allem zynisch finden. Und doch grundiert der Konfuzianismus nicht nur die chinesische Gesellschaft, sondern auch unsere Wahrnehmung von ihr. Johann Gottfried Herder stellte sich China im 18. Jahrhundert als „balsamierte Mumie, mit Hieroglyphen bemalt“, vor. Leopold Ranke sprach im 19. Jahrhundert von einem „Volk des ewigen Stillstands“. Und das hat Gründe. Man sollte etwa wissen, dass Handwerk in China erst im Traditionszitat zu Kunst avanciert – und dass sich daher zum chinesischen Kunstverständnis der verbeugenden Nachahmung kein größerer Unterschied denken lässt als die (westliche) Kunst als Schöpferakt einzelner Genies.

Wer es weniger historisch-akademisch, dafür aktueller, politökonomisch konkreter und gegenwartsbezogener mag, ist bei Guangyan Yin-Baron und Stefan Baron bestens aufgehoben. Der ehemalige Chefredakteur dieses Blattes und seine Frau entwerfen nicht weniger als das „Psychogramm einer Weltmacht“ und seiner Menschen. Entsprechend liest sich „Die Chinesen“ (2018) wie das Buch zweier China-Botschafter, die vollends fasziniert von der Kultur und Weisheits-Philosophie des Landes sind, übrigens auch von seinem planwirtschaftlichen Aufstieg und der politischen Klugheit der Kader-Autokraten.

„Die Chinesen: Psychogramm einer Weltmacht“ von Guangyan Yin-Baron und Stefan Baron ist 2019 bei Ullstein erschienen. Quelle: Presse

Das Autorenduo übernimmt dabei die Perspektive der (Han-)Chinesen – und das Erstaunliche ist, dass das flüssig geschriebene Buch von dieser Art Dreiecksgeschichte profitiert: Eben weil die Barons sich uns (dem Leser) aus der Perspektive „der Chinesen“ mitteilen, beschenken sie uns nicht nur mit Verständnis für das Land, sondern auch, durchaus in des Begriffes ambivalenter Bedeutung, mit einem ganz „guten Gefühl“.

Noch gründlicher, geradezu musterhaft und endgültig, legt allerdings ein anderes Buch den Kern des traditionellen chinesischen Selbstverständnisses frei – so wie es sich heute im Weltbild von Präsident Xi und in der Staatsphilosophie des Landes materialisiert. Es ist aus meiner Sicht, ganz klar, das beste China-Buch seit Langem. Geschrieben hat es Zhao Tingyang, Professor für Philosophie an der Chinesischen Akademie der Sozialwissenschaften in Peking, laut Verlagslyrik einer der „bedeutendsten chinesischen Philosophen der Gegenwart“. Man muss Zhao wirklich dankbar sein für die Offenheit, mit der er die chinesische Antike hagiographiert, um sie uns als Referenz und Leitstern einer modernen „Pax Sinica“ vor Augen zu führen: als Beispiel für eine Weltinnenpolitik der Kooperation und Koexistenz, geprägt von einem gütigen Hegemon, dessen unwiderstehliche Anziehungskraft sich allein seiner Systemüberlegenheit verdankt. So verklärt und nationalgeschichtsstolz, so aller dunklen, kaderkommunistischen Realität enthoben wie in „Alles unter dem Himmel“ (2020) bekommt man das chinesische Harmonieideal „tianxia“ nicht alle Tage serviert.

„Alles unter dem Himmel“ von Zhao Tingyang ist 2020 bei Suhrkamp erschienen. Quelle: Presse

Man hat sich unter „tianxia“, so der Globalhistoriker Jürgen Osterhammel, weniger eine „greifbare Ordnung“, vielmehr „ein Lebensgefühl hierarchischer Geborgenheit“ vorzustellen: ein Lebensgefühl, das geographisch in China konzentriert ist und auf das die Welt zentripetal hin ausgerichtet ist. Es ist ein Lebensgefühl, das von der Kommunistischen Partei heute vor allem in Form von Win-Win-Konstellationen produziert wird – Win-Win-Konstellationen, die sich Zhao zufolge am besten in vertikalen Verhältnissen und Tributbeziehungen realisieren lassen. Für den inferioren Rest der Welt geht es laut Zhao vor allem darum, die Autorität des „tianxia“-Inhabers im Wege der freiwilligen Unterwerfung anzuerkennen, seine kulturellen Vorzüge assimilierend zu genießen, seiner politischen Meisterschaft Gehorsam zu bezeigen – sich in den „Mahlstrom“ seiner segensreichen Zentripetalkräfte ziehen zu lassen.

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