Michael Sandel Das Marktdenken lähmt die Moral

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Profitmaximierung ist nur Mittel zum Unternehmenszweck

Floskelcheck: "Soziale Gerechtigkeit"

...über dessen Inhalt sich die Gelehrten seit Jahrhunderten streiten.

Sicher. Utilitaristen verstehen unter Gerechtigkeit die Maximierung von Glück, Nutzen, Wohlstand. Es ist die „Wir-steigern-das-Bruttosozialprodukt-Idee“. Zu ihren Mängeln gehört, dass sie sich keine Gedanken um die Verteilung des Wohlstands macht und dass die Maximierung des Glücks für eine Mehrheit nicht die Minimierung des Glücks für eine Minderheit ausschließt. Daher verstehen Freunde von Immanuel Kant unter Gerechtigkeit den Respekt vor individueller Freiheit und personaler Würde. Ein kraftvoller Gedanke: Gerecht ist, wer unverletzbare Rechte und Pflichten des Einzelnen respektiert. Eine dritte Tradition reicht zurück zu Aristoteles. Seine Gerechtigkeit hat das Ziel eines gelingenden (Zusammen-)Lebens. Aristoteles ist daher vor allem an der Kultivierung von Tugenden interessiert.

Von welcher Relevanz sind die drei Traditionen heute?

Sie sind in fast all unseren Debatten lebendig. Ein Utilitarist zum Beispiel würde die Folterung eines Terroristen rechtfertigen – ein Kantianer nicht. Ein Utilitarist zum Beispiel würde wachsende Ungleichheit akzeptieren, solange das Sozialprodukt steigt – ein Anhänger von Aristoteles nicht.

Und welche Tradition ist Ihnen besonders wichtig?

Aus meiner Sicht spricht viel für Aristoteles’ Gerechtigkeitsbegriff – ganz einfach, weil Demokratie abhängig ist von bürgerlichen Tugenden, die ein Staat nicht mandatieren kann. Eine solche Tugend wird überall da kultiviert, wo kein Individuum mehr ist und noch kein Staat: in Vereinen, Kirchen, Gewerkschaften, NGOs. Im Sozialraum zwischen Individuum und Staat sprudeln die Quellen einer guten Charakterbildung. Deshalb braucht eine gesunde Demokratie nicht nur eine gute Verfassung und gute Gesetze. Sondern auch eine gesunde Bürgergesellschaft.

Ist eine liberale Demokratie elementar gerechter als andere Staatsformen?

Auch hier halte ich es mit Aristoteles, für den Charakterbildung nur im Austausch von Argumenten möglich war. Deshalb kann man sich wohl eine Gesellschaft vorstellen, die die Menschenrechte achtet und die individuelle Freiheit ihrer Bürger. Aber ohne zugleich eine blühende Diskurskultur zu erlauben, ist eine solche Gesellschaft noch keine gute Gesellschaft. Ihr fehlt die Ermunterung zum Meinungsaustausch über das, was gut oder schlecht ist, was gerecht ist und was ungerecht.

Die Wirtschaft scheint oft nicht diskutieren zu wollen, was gut oder schlecht ist, gerecht oder ungerecht. „The business of business is business“, hat Milton Friedman einmal gesagt. Was ist daran falsch?

Unternehmen sind Institutionen zur Förderung des Gemeinwohls, das ist ihre primäre und ursprüngliche Funktion. Deshalb glaube ich, dass es ein Fehler ist, den Zweck von Unternehmen eng zu fassen. Natürlich ist Profitmaximierung eine hervorragende Möglichkeit für Unternehmen, das Gemeinwohl zu fördern. Aber es ist wichtig, daran zu erinnern, dass Profitmaximierung ein Mittel zum Zweck ist, kein Zweck an sich. Unternehmen können auch mit anderen Mitteln einen Beitrag zur Förderung des Gemeinwohls leisten: mit fairer Bezahlung, mit guten Beziehungen zu Kunden, Zulieferern, Mitarbeitern und mit der Übernahme von Verantwortung in den Gesellschaften, in denen sie operieren – so wie es viele Unternehmen ja auch tun.

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