Nordrussland Zwischen Volksfeinden und Bücherverbrennung

In Russlands Regionen nimmt die ideologische Auseinandersetzung teils groteske Formen an. Die Behörden lassen Bücher verbrennen, die aus der amerikanischen Soros-Stiftung stammen. Die Aktion ist umstritten.

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Anhänger der kommunistischen Partei Russland gedenken Joseph Stalin. Dessen nationale Popularität wächst. Quelle: AFP

Moskau In der nordrussischen Teilrepublik Komi sind Dutzende Bücher, die unter Mithilfe der Soros-Stiftung „Open Society“ herausgegeben wurden, auf dem Scheiterhaufen gelandet. Hunderte wurden aus den örtlichen Bibliotheken entfernt. Auf der Verbotsliste tauchten klassische Lehrbücher russischer Wissenschaftler auf, nach denen an vielen russischen Universitäten immer noch gelehrt wird.

Die Büchervernichtung geht auf eine Initiative des Präsidentenvertreters für Nordwestrussland, Andrej Trawnikow, zurück. In einem Brief an die stellvertretende Regierungschefin der Republik Komi, Tamara Nikolajewa, bat er darum, Bücher, die mit Geld der Soros-Stiftung gedruckt wurden, ausfindig zu machen und aus dem Verkehr zu ziehen, da sie „unter jungen Menschen eine verzerrte Wahrnehmung der vaterländischen Geschichte formieren und Werte popularisieren, die der russischen Ideologie fremd sind“.

Nach Angaben des regionalen Bildungsministeriums wurden daraufhin in der staatlichen Technischen Universität der Erdölstadt Uchta 413 Bücher zur Entsorgung empfohlen, im polytechnischen Technikum von Workuta 14. Im Bergbau- und Wirtschafts-College der Stadt, die einst als Zentrum der Gulag-Industrie bekannt war, wurden 53 Bücher bereits auf dem Hinterhof verbrannt. Informationen des örtlichen Internetportals „7x7“ zufolge sind die „Soros-Bücher“ auch in der Bibliothek der Komi-Hauptstadt Syktywkar aus den Regalen verbannt worden.

Die Stiftung „Open Society“ existierte in Russland seit 1995 und unterstützte Programme in den Bereichen Bildung, Kultur, Medizin und Zivilgesellschaft. 2013 stellte der Fonds seine Tätigkeit nach der Verschärfung des NGO-Gesetzes ein. 2015 landete die Stiftung auf der „patriotischen Stopp-Liste“ des russischen Föderationsrats und wurde von der Generalstaatsanwaltschaft „unerwünschter ausländischer Agent“ eingestuft. George Soros selbst ist Unterstützer der Maidan-Revolution in der Ukraine und gilt als Gegner von Kremlchef Wladimir Putin.

Trotzdem regt sich Widerstand gegen die Aktion. „Die Lehrbücher hat doch Soros nicht selbst geschrieben, sondern russische Autoren, die anschließend sorgfältig von russischen Wissenschaftlern ausgewählt wurden“, sagte einer der Betroffenen, Lew Jakobson, Prorektor der Moskauer Higher School of Economics, gegenüber der Internetzeitung gazeta.ru.

In den 90er Jahren habe die Soros-Stiftung viel zum Überleben der russischen Wissenschaft beigetragen, pflichtet ihm Wladimir Mironow, Dekan der Fakultät für Philosophie an der Moskauer Lomonossow-Universität, bei. „In der Zeit gab es große Probleme mit der Herausgabe von Büchern, darum haben sich viele an die Soros-Stiftung gewandt“, sagte er.

Selbst Alexander Tarnawski, als Duma-Abgeordneter einer der Initiatoren des Gesetzes über „unerwünschte ausländische Agenten“, kritisierte die Bücherverbrennung in Komi als „Übertreibung“. Da hätten regionale Beamte wohl versucht, sich hochzudienern, meinte er.


Warum Stalin sich wachsender Beliebtheit erfreut

Tatsächlich ist in den russischen Regionen der Kampf um die reine Ideologie oft schärfer und wird mit plumperen Mitteln betrieben als in Moskau selbst. So wurden in der Ural-Region Swerdlowsk die Geschichtsbücher der englischen Militärhistoriker John Keegan und Anthony Beevor aus Schulbibliotheken entsorgt – angeblich waren sie „vollgestopft mit nazistischen Propaganda-Stereotypen“.

In der Baikal-Region Irkutsk wurden Astrid Lindgrens „Karlson vom Dach“, Christian Andersens „Däumelinchen“ und Mark Twains „Tom Sawyer“, ja selbst der für die Russen heilige Alexander Puschkin und sein „Märchen vom Goldenen Hahn“ als kinderschädigend eingestuft und aus den öffentlichen Bibliotheken genommen.

In Nowosibirsk führte eine Tannhäuser-Aufführung des Regisseurs Timofej Kuljabin zu einem grandiosen Skandal. Der Metropolit der russisch-orthodoxen Kirche von Nowosibirsk, Berdsk Tichon, erstattete Anzeige wegen Verletzung religiöser Gefühle und Zweckentfremdung christlicher Symbole. Das Stück wurde abgesetzt, der Theaterdirektor Boris Mesdritsch entlassen.

„Ihnen ist nichts heilig“, klagt auch Tschetscheniens Oberhaupt Ramsan Kadyrow die Opposition an. Kadyrow ist bekannt für seinen rigorosen Kampf gegen alles, was er für unpatriotisch hält. Bürgerrechtler bezichtigen ihn, in die Ermordung von Anna Politkowskaja, Natalja Estemirowa und jüngst auch Boris Nemzow verwickelt zu sein.

Kadyrow weist die Vorwürfe zurück, doch seine Rhetorik bleibt aggressiv: „Die Vertreter der so genannten außerparlamentarischen Opposition versuchen von der schwierigen Wirtschaftslage zu profitieren. Solchen Leuten muss man wie Verrätern und Volksfeinden gegenübertreten“, führte er jüngst aus.

Der Begriff Volksfeind fand zu Zeiten der Stalinschen Repressionen besonders starke Verwendung. Die Angeklagten erwartete in der Regel die Todesstrafe, selbst Angehörige von Volksfeinden wurden in Sippenhaft genommen und mussten mit einer Gefängnisstrafe von mindestens fünf Jahren rechnen.

Stalin selbst übrigens erfreut sich wachsender Beliebtheit: Erst im Dezember wurde in der Großstadt Pensa ein Stalin-Zentrum eröffnet. Umfragen bestätigen Stalins zunehmende Popularität: Ein Drittel der Befragten ist inzwischen davon überzeugt, dass der Sieg im Zweiten Weltkrieg alle Sünden Stalins überwiege. Vor neun Jahren waren nur 28 Prozent der Befragten dieser Ansicht.

Die Zahl derjenigen, die in ihm einen weisen Anführer sehen, der die Sowjetunion zum Aufstieg geführt hat, ist inzwischen mit 20 Prozent (2007 waren es noch 14 Prozent) fast genau so hoch wie die Zahl seiner Gegner (21 Prozent), die ihn als Tyrannen und Massenmörder sieht.

Der Grund für all die Phänomene liegt in der zunehmenden Entfremdung zwischen Russland und dem Westen, und den zahlreichen Konflikten, die in der jüngsten Zeit aufgebrochen sind. In den Regionen zeigt sich diese Abgrenzung nur deutlich exzessiver als in der Hauptstadt Moskau.

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