




Als eine „bizarre Mischung aus Illusion und Propaganda“ gilt für Rebecca Harms die Nuklearstrategie der Europäischen Kommission. „Die EU-Kommission setzt die Kosten in allen Bereichen von Neubau über Sicherheitsnachrüstungen bis zu Rückbau und Entsorgung zu gering an“, moniert die Fraktionschefin der Grünen im Europaparlament. In Großbritannien zeige sich mit der Planung des Reaktors von Hinkley Point C immer klarer, dass Neubauten von Atomkraftwerken weit entfernt von Wettbewerbsfähigkeit seien: „Das muss man sich auch endlich in der Kommission eingestehen.“
Am Dienstagmorgen hatte ein Papier aus der Generaldirektion Forschung der EU-Kommission für Spekulationen gesorgt, wonach Brüssel den Aus- und Neubau von Atomkraftwerken vorantreiben wolle. In der Behörde weist man dies energisch zurück. „Die Kommission ist neutral. Der Energiemix ist allein Sache der Mitgliedsländer.
Es geht darum, Forschung und Entwicklung im Bereich der Energie zu koordinieren und die Prioritäten für die kommenden Jahre zu definieren“, heißt es. Der nun in Teilen öffentlich gewordene Expertenbericht, der sich auch mit regenerativen Energien und der Stromspeicherung befasse, schaffe nun die Diskussionsgrundlage für ein Treffen von Experten aus Politik, Forschungseinrichtungen und Industrie in der kommenden Woche.
Die Atomklagen der Energiekonzerne
E.On, RWE und Vattenfall haben gegen den 2011 beschlossenen beschleunigten Atomausstieg vor dem Bundesverfassungsgericht geklagt. Das Gericht will noch 2015 entscheiden. Den Konzernen geht es nicht darum, den bis Ende 2022 geplanten Ausstieg rückgängig zu machen. Sie fordern jedoch Schadenersatz, da die Bundesregierung wenige Monate vor der Atomkatastrophe im japanischen Fukushima die Laufzeiten der Meiler noch verlängert hatte. Sollte das Verfassungsgericht den Unternehmen Recht geben, müssten diese den Schadenersatz in weiteren Verfahren erstreiten. Eon fordert über acht Milliarden Euro. RWE hat keine Zahlen genannt, die Analysten der Deutschen Bank gehen von sechs Milliarden Euro aus. Vattenfall will 4,7 Milliarden Euro und klagt zudem vor einem Schiedsgericht in den USA.
E.On, RWE und EnBW klagen gegen Bund und Länder wegen des nach der Atomkatastrophe von Fukushima verhängten dreimonatigen Betriebsverbots für die sieben ältesten der damals 17 deutschen AKWs plus dem damals geschlossenen AKW Krümmel. Das Moratorium lief von März bis Juni 2011 und mündete schließlich im August im endgültigen Ausstiegsbeschluss. Ursprünglich hatte lediglich RWE geklagt. Nachdem der Energieriese vor Gericht Recht bekam, zogen Eon und EnBW nach. Eon klagt auf Schadenersatz in Höhe von 380 Millionen Euro. RWE fordert 235 Millionen Euro, EnBW einen „niedrigen dreistelligen Millionenbetrag“.
E.On, RWE und EnBW klagen auf eine Befreiung und Rückzahlung der 2011 eingeführten Brennelementesteuer. Diese wird noch bis 2016 erhoben. Eon hat nach eigenen Angaben 2,3 Milliarden Euro an den Bund gezahlt, RWE 1,23 Milliarden Euro und EnBW 1,1 Milliarden Euro. Die Verfahren sind vor dem Bundesverfassungsgericht und der Europäischen Gerichtshof (EuGH) anhängig. Der Generalanwalt des EuGH hält die Steuer jedoch mit europäischem Recht vereinbar. Seine Einschätzung ist für das Gericht aber nicht bindend.
E.On hat im Oktober 2014 wegen der im Atomgesetz vorgesehenen standortnahen Zwischenlagerung wieder aufbereiteter Atomabfälle, die aus dem Ausland zurückgeholt werden, geklagt. Die Klage richtet sich gegen die Länder Niedersachsen und Bayern sowie den Bund. Vattenfall hat im selben Zusammenhang gegen Schleswig-Holstein und den Bund geklagt. Auch RWE hat Klage eingereicht. Es geht um Mehrkosten für die Betreiber, nachdem es keine Transporte dieser Abfälle mehr in das Lager nach Gorleben geben soll. Die Konzerne halten Gorleben jedoch weiter für den richtigen Standort.
Demnach könnten die EU-Staaten bei der Erforschung, Entwicklung, Finanzierung und beim Bau innovativer Reaktoren enger zusammenarbeiten. Und auch Gelder aus dem Europäischen Fonds für strategische Investments (EFSI) und den Forschungsprogrammen der EU könnten fließen. „Die europäischen Steuerzahler sollen jetzt auch noch die private Atomlobby fördern, und das nennt sich dann Investitionsprogramm“, kommentiert Fabio De Masi, Europaabgeordneter der Linken die Überlegungen: „Wir brauchen öffentliche Investitionsprogramme in den Ausbau erneuerbarer Energien und die Entwicklung nachhaltiger Speichertechnologien.“
Tatsächlich kommt die Europäische Union auf absehbare Zeit nicht um die Nutzung von Nuklearenergie herum, und das aus mehreren Gründen: Zum einen ist da der wachsende Stromverbrauch. Zudem haben sich die 28 Mitgliedstaaten darauf geeinigt, ihre Versorgungsabhängigkeit von Gas aus Russland zu verringern. Darüber hinaus muss die Gemeinschaft ihre selbst auferlegten Klimaziele erreichen und dazu den Ausstoß des Treibhausgases CO2 deutlich verringern; im Gegensatz zu Kohle- und Gaskraftwerken arbeiten Atomkraftwerke nahezu CO2-neutral.
Europas Energieversorger müssen massiv investieren
Erst jüngst hatte die Kommission eine Bestandsaufnahme zur Nuklearwirtschaft in der EU veröffentlicht. Demnach müssen Europas Energieversorger massiv in den Neubau von Atomkraftwerken investieren. Dafür seien bis zum Jahr 2050 Beträge in Höhe von 450 bis 500 Milliarden Euro nötig. Bis 2050 sind nach Ansicht der Kommission außerdem rund 90 Prozent der bestehenden altersschwachen Kapazitäten zu ersetzen.
Schätzungen zufolge wird die Branche in den nächsten Jahrzehnten zusätzlich zu den Investitionen in neue Anlagen 45 bis 50 Milliarden Euro investieren müssen, um altersschwache Anlagen so zu sanieren, dass sie nicht vom Netz müssen.
Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung kommen Forschung und Innovationskraft in dem Sektor eine maßgebliche Bedeutung zu. Auch deshalb will Brüssel bei der Entwicklung neuer Reaktortechnologien Tempo machen. „Die Nutzung von Atomkraft ist in der EU eine Realität, ob es Kritikern passt oder nicht“, heißt es im Umfeld von Energiekommissar Miguel Arias Canete. Es sei deshalb die Aufgabe der Kommission, für die größtmögliche Sicherheit zu sorgen und die Mitgliedstaaten dabei zu unterstützen, hierfür die Grundlagen zu schaffen.
Derzeit sind in 14 EU-Staaten 131 Atomkraftwerke am Netz. Im Schnitt sind sie rund 30 Jahre alt. Neue Meiler sind in Frankreich, Finnland, Ungarn, der Slowakei wie auch in Tschechien, Bulgarien, Polen, Litauen sowie in Rumänien und Großbritannien geplant oder bereits in Bau. Die Kommission empfiehlt dazu eine engere Kooperation der nationalen Regulierungsbehörden bei der Lizenzierung. Bessere Absprachen und gemeinsame Standards könnten die Kosten reduzieren und gleichzeitig die Sicherheit verbessern.
Auch international bleibt die Atomkraft auf dem Vormarsch. So müsse die EU beispielsweise angesichts der Entwicklung in China und Indien alles tun, um seine Technologieführerschaft im Nuklearbereich zu erhalten, mahnt die Kommission in ihrem Diskussionspapier für eine verbesserte Forschungszusammenarbeit im Energiesektor.