Putins Krieg und die Folgen für Russland „Die Verarmung der Russen kann Putin militärisch nützen“

Leere Regale in russischem Supermarkt in Moskau: Bereits Ende März gab es Engpässe bei Damenbinden, Windeln und Zucker, da viele ausländische Marken ihren Rückzug bekanntgaben. Quelle: dpa Picture-Alliance

Der russische Ökonom Alexander Libman spricht über die Stimmung in seinem Heimatland, die Folgen der Sanktionen – und die Hoffnung der Armee auf arbeitslose junge Männer.

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WirtschaftsWoche: Herr Libman, Sie haben noch familiäre Kontakte in Russland und stehen auch in Kontakt zu Wissenschaftlern im Land. Was hören Sie aus Russland?
Alexander Libman: So merkwürdig es klingen mag: Es ist im Leben der Menschen ein gewisser Alltag eingekehrt. Der erste Schock ist weg. Es gibt keine Hamsterkäufe mehr wie zu Beginn des Krieges. Klar, es gibt Versorgungslücken und zum Teil starke Preissteigerungen, unter denen vor allem die Armen auf dem Land leiden. Aber in den großen Städten empfinden Menschen die wirtschaftliche Lage noch nicht als bedrohlich. Eine wichtige Rolle spielt dabei der wiedererstarkte Rubel. Weil die Importe drastisch gesunken sind und die Rohstoffexporte weiter fließen, hat sich Währung von ihrem Absturz zu Kriegsbeginn schnell erholt. Das hatte eine Signalfunktion auf die russische Gesellschaft.

Heißt das, die Notenbank rettet Putin gerade wirtschaftlich gesehen den Kopf?
Zumindest hat sie einen wesentlichen Anteil, dass trotz der massiven Finanzsanktionen das russische Geld- und Finanzsystem noch funktioniert. Die Führungsspitze der Zentralbank macht unter den gegebenen Bedingungen einen guten Job. Da sitzen keine Apparatschiks, sondern ausgewiesene Expertinnen und Experten der Geldpolitik. Aus der Perspektive derjenigen, die auf kurzfristige Wirkung der Sanktionen hoffen, könnte man sagen: leider.

Zur Person

Der Westen schafft es also mit all seinen Sanktionen nicht, Russland ökonomisch nachhaltig zu schwächen?
Doch, aber anders als von vielen erwartet. Es wird in Russland keinen wirtschaftlichen Kollaps geben. Der ökonomische Abstieg kommt schleichend daher, es ist ein Abstieg auf Raten. Denken Sie nur an die Industrie: Die Versorgung mit Ersatzteilen läuft derzeit noch über die Lagerhaltung. Irgendwann sind die Lager leer und dann stehen viele Maschinen in den Fabriken still, weil es keine Ersatzteile aus dem Westen mehr gibt. Es kommen auch keine westlichen Ingenieure mehr, um Anlagen zu warten.

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Das russische Wirtschaftsministerium sagt für 2023 ein Wirtschaftswachstum zwischen 1,1 und 1,3 Prozent voraus. Kann man offiziellen makroökonomischen Daten und Prognosen aus Russland noch trauen?
Nein. Man sollte als Ökonom oder Politiker mit offiziellen Statistiken aus Russland sehr vorsichtig sein. Es wird immer schwerer, an verlässliche Wirtschaftsdaten zu kommen. Viele Jahre lang wurden diese politisch nicht beeinflusst, weil sich die Politik dafür schlicht nicht interessierte. Das hat sich geändert. Manche Daten werden auch gar nicht mehr veröffentlicht, um das Ausmaß des ökonomischen Verfalls zu verschleiern. Andere Daten werden zurückgehalten, um dem Westen keine Informationen zu liefern, die bei Sanktionen eine Rolle spielen könnten, etwa über die Eigentumsverhältnisse. Ich erwarte, dass zum Beispiel Grundbuchauszüge für die von Sanktionen betroffenen Personen bald nicht mehr öffentlich einsehbar sein werden.

Ökonom Alexander Libman wurde in Moskau geboren und studierte in Russland Ökonomie. Später promovierte er in Mannheim promoviert. Heute lehrt er in Berlin. Quelle: PR

Gibt es trotz der politischen Repression in der Bevölkerung noch nennenswerten Widerstand gegen den Krieg?
Das ist sehr schwer zu sagen. Die öffentliche Kriegspropaganda wird von relativ wenigen Protagonisten betrieben. Bei den Eliten herrscht hingegen überwiegend ein dröhnendes Schweigen. Ein Knackpunkt für die Stimmung in der Bevölkerung könnte werden, wenn die Arbeitslosigkeit spürbar ansteigt und die Einkommen der Menschen sinken. Derzeit bezahlen ja viele ausländische Firmen, die Russland verlassen haben, ihre alte Belegschaft noch weiter. Auch russische Firmen werden gezwungen sein, Löhne zu senken oder Mitarbeiter zu entlassen.

Auf der anderen Seite darf man nicht vergessen, dass die Menschen in Russland durch die Sanktionen vom Staat abhängiger werden. Das kann durchaus zu einer innenpolitischen Stabilisierung aus wirtschaftlichen Gründen führen. Die meisten werden keine wirtschaftlichen Kontakte in den Westen haben und nun komplett auf Putin und die staatlichen Belohnungs- und Umverteilungsmechanismen angewiesen sein. So groß ihr Unglück auch ist: Was sollen sie machen? Mittelfristig könnte Putin von einer breiten Verarmung der russischen Gesellschaft sogar militärisch profitieren.

Putins Wirtschaft hält trotz Sanktionen überraschend lange durch – doch sie dürfte auf den technischen Stand der Achtzigerjahre zurückfallen. Sogar erstaunliche Comebacks wären möglich.
von Malte Fischer, Henryk Hielscher, Bert Losse, Rüdiger Kiani-Kreß, Maxim Kireev, Dieter Schnaas, Martin Seiwert, Cornelius Welp

Wie meinen Sie das?
Wenn sich die Lebensgrundlagen drastisch verschlechtern, bleibt für viele junge Männer womöglich nur eine Alternative, um sich und ihre Familie zu ernähren: Sie gehen zur Armee. Das russische Militär wird in den kommenden Jahren ganz sicher keinen Einstellungsstopp verkünden.

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