
Taiwan steuert auf einen möglichen Machtwechsel zu, der neue Spannungen mit Peking erwarten lässt. Nach acht Jahren der Annäherung an China droht der Regierungspartei der Kuomintang bei der Präsidenten- und Parlamentswahl am Samstag eine klare Niederlage. In Umfragen führte die oppositionelle Präsidentschaftskandidatin Tsai Ing-wen von der Fortschrittspartei (DPP), die eher auf Distanz zu China geht. Den Herausforderern Eric Chu von der Kuomintang (KMT) und James Soong von der Volkspartei (PFP) wurden kaum Chancen eingeräumt.
Die demokratische Inselrepublik erlebt damit einen Stimmungswechsel, der den seit mehr als sechs Jahrzehnten anhaltenden Konflikt mit der Führung in Peking verschärfen könnte. Die Kommunisten betrachten Taiwan nur als abtrünnige Provinz und drohen mit einer gewaltsamen Rückeroberung. Während die Kuomintang am Ein-China-Grundsatz festhält und die Kooperation mit China vorangetrieben hat, ist die Fortschrittspartei aus der Unabhängigkeitsbewegung entstanden.





Die als moderat geltende Oppositionskandidatin versicherte den 23 Millionen Taiwanesen gleichwohl, am Status quo festhalten und eine berechenbare Politik verfolgen zu wollen. Bei einem Wahlsieg wäre die Juraprofessorin die erste Präsidentin in der Geschichte Taiwans. Ob die Kuomintang auch erstmals im Parlament ihre Mehrheit verliert, schien noch offen. Mehrere kleine Parteien und unabhängige Kandidaten könnten beiden großen Parteien nötige Stimmen wegnehmen. 113 Abgeordnetensitze werden vergeben. Bisher hielt die Kuomintang 64 und die Fortschrittspartei 40 Sitze im Parlament.
Die mehr als 15 000 Wahllokale schließen um 16.00 Uhr Ortszeit (09.00 Uhr MEZ). Mit ersten Ergebnissen wurde nach 20.00 Uhr (13.00 Uhr MEZ) gerechnet. Wahlberechtigt sind 18,7 Millionen Taiwanesen. Unter ihnen sind 1,29 Millionen junge Erstwähler, die eine wichtige Rolle spielen. Die Wahlbeteiligung, die vor vier Jahren 74 Prozent erreicht hatte, hängt stark vom Wetter ab. Es klarte am Morgen auf, so dass viele schon früh in die Wahllokale gingen. Sporadische Regenschauer wurden im Laufe des Tages in Teilen der Insel erwartet.
Präsident Ma Ying-jeou, der nach zwei Amtszeiten nicht mehr antreten darf, warnte im Falle eines Regierungswechsels vor einer „ungewissen Zukunft“. Die Wahl wird auch in den USA mit großer Aufmerksamkeit verfolgt. Ein Konflikt würde die ohnehin komplizierte Lage in der Region verschärfen, in der Chinas umstrittene Ansprüche auf Inselgruppen erhebt. Washington unterstützt Taiwan mit Waffenlieferungen und lehnt jede gewaltsame Änderung des Status quo ab.
Während die Beziehungen zwischen Peking und Taipeh für das Ausland im Fokus stehen, spielt die schlechte Wirtschaftslage eine wichtige Rolle bei den Wählern. Das Wachstum der fünftgrößten asiatischen Volkswirtschaft lag 2015 unter einem Prozent. Die Real-Einkommen sind seit mehr als zehn Jahren nicht gestiegen. Viele Taiwanesen beklagen, das die Früchte der stark gewachsenen wirtschaftlichen Kooperation mit Festlandchina nicht bei ihnen ankommen. Auch fürchten sie die wachsende Abhängigkeit von China und dessen Einfluss in Taiwan.
Tsai Ing-wen verspricht, als Präsidentin die Handelskontakte zu anderen Ländern auszubauen und die Innovation der heimischen Industrie zu fördern. Auch stellt sie wieder bezahlbaren Wohnraum, eine Abkehr von der Atomkraft und den Ausbau erneuerbarer Energien sowie die Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare in Aussicht.