In der Türkei sind erneut Tausende Staatsbedienstete im Zusammenhang mit dem gescheiterten Putsch entlassen worden. Zugleich begann am Dienstag der Prozess gegen den in den USA lebenden Prediger Fethullah Gülen und 72 weitere Personen wegen des Verdachts des Umsturzversuches. Das Verfahren dürfte im Verlauf auf den Putschversuch vom Juli ausgedehnt werden, hinter dem der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan die Gülen-Bewegung vermutet. Im EU-Parlament zeichnete sich eine deutliche Mehrheit für eine Resolution ab, die wegen des Vorgehens der türkischen Regierung ein Aussetzen der EU-Beitrittsgespräche fordert.
Zu den 15.000 entlassenen Staatsbediensteten gehörten neben Soldaten und Polizisten auch Beamte der Steuerbehörden, Krankenschwestern und Hebammen. Außerdem wurden mit einem zweiten Dekret 375 Institute sowie weitere Wohltätigkeitseinrichtungen und Medien geschlossen. Das Vorgehen stehe in Zusammenhang mit den Ermittlungen nach dem gescheiterten Militärputsch, heißt es in dem Erlass. Erdogan machte deutlich, dass die Maßnahmen noch nicht beendet seien. "Sie sind weiter da, in unserem Militär, in unserer Polizei und der Justiz", sagte Erdogan mit Verweis auf die Gülen-Bewegung.
Nach dem Umsturzversuch wurden schon mehr als 110.000 Staatsbedienstete entlassen, mehrere Tausend wurden festgenommen. Die türkische Führung beschuldigt Gülen, Drahtzieher des versuchten Putsches zu sein und schon zuvor den Sturz der Regierung angestrebt zu haben. Gülen hat dies zurückgewiesen. Türkischen Medienberichten zufolge gerieten manche der Beamten ins Visier, weil sie Konten bei einer Bank hatten, die früher von Gülen-Anhängern kontrolliert wurde oder eine Nachrichten-App auf ihren Smartphones nutzten, die von den Behörden als Kommunikationsmittel der Gülen-Bewegung angesehen wird. In Ankara begann der Prozess gegen den Geistlichen in seiner Abwesenheit. Die Anklagepunkte umfassen den Verdacht des Betrugs, militärischer und politischer Spionage sowie Aufbau und Führung einer terroristischen Vereinigung. Unter den Angeklagten sind auch Journalisten und prominente Geschäftsleute.
Schlüsselstaat Türkei
Die Republik Türkei ist laut der Verfassung von 1982 ein demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat. Regiert wird das Land von Ministerpräsident Binali Yildirim und dem Kabinett. Staatsoberhaupt ist Recep Tayyip Erdogan, als erster Präsident wurde er 2014 direkt vom Volk gewählt. Im türkischen Parlament sind vier Parteien vertreten, darunter - mit absoluter Mehrheit - die islamisch-konservative AKP von Erdogan. Parteien müssen bei Wahlen mindestens 10 Prozent der Stimmen auf sich vereinen, um ins Parlament einziehen zu können. Die Türkei ist zentralistisch organisiert, der Regierungssitz ist Ankara. (dpa)
Die Türkei ist seit 1999 Kandidat für einen EU-Beitritt, seit 2005 wird darüber konkret verhandelt. Würde die Türkei beitreten, wäre sie zwar der ärmste, aber nach Einwohnern der zweitgrößte Mitgliedstaat, bei derzeitigem Wachstum in einigen Jahren wohl der größte.
Als Nachbarstaat von Griechenland und Bulgarien auf der einen Seite und Syrien sowie dem Irak auf der anderen Seite bildet die Türkei eine Brücke zwischen der EU-Außengrenze und den Konfliktgebieten des Nahen und Mittleren Ostens.
Seit Beginn des Syrien-Konflikts ist die Türkei als Nachbarstaat direkt involviert. Rund 2,7 Millionen syrische Flüchtlinge nahm das Land nach eigenen Angaben auf. Die türkische Luftwaffe bombardiert allerdings auch kurdische Stellungen in Syrien und heizt so den Kurdenkonflikt weiter an.
1952 trat die Türkei der Nato bei. Das türkische Militär - mit etwa 640 000 Soldaten und zivilen Mitarbeitern ohnehin eines der größten der Welt - wird bis heute durch Truppen weiterer Nato-Partner im Land verstärkt. Im Rahmen der sogenannten nuklearen Teilhabe sollen auch Atombomben auf dem Militärstützpunkt Incirlik stationiert sein.
Im EU-Parlament zeichnete sich eine breite Mehrheit dafür ab, wegen der Entwicklungen seit dem Putschversuch die Beitrittsgespräche der EU mit der Türkei auszusetzen. Die Fraktionsvorsitzenden von EVP, Sozialdemokraten, Liberalen und Grünen sprachen sich in Straßburg für eine solche Resolution aus, über die am Donnerstag abgestimmt werden soll. EVP-Fraktionschef Manfred Weber mahnte die Türkei im Plenum, um ihrer selbst willen wieder auf die EU zuzugehen. Die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini rief zugleich dazu auf, den Gesprächsfaden mit der Türkei nicht abreißen zu lassen. Die Aufforderung des EU-Parlaments, die Verhandlungen mit der Türkei einzufrieren, ist für die EU-Kommission und die Mitgliedsländer nicht bindend.
Die 2005 begonnenen Beitrittsgespräche stecken schon länger in einer Sackgasse. Erdogan hat für kommendes Jahr ein Referendum in seinem Land darüber in Aussicht gestellt, ob die Verhandlungen mit der EU fortgesetzt werden sollen. Umgekehrt droht die EU damit, die Gespräche zu beenden, falls Erdogan wie angekündigt die Todesstrafe wieder einführt.