Türkei nach den Verhaftungen Erdogans eiserne Faust

Massenverhaftungen, Gleichschaltung der Medien, Polizeiwillkür und Folter: Besorgnis ist viel zu wenig angesichts der Entwicklungen in der Türkei. Das Land ist auf dem Weg in eine Diktatur. Ein Kommentar.

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Erdogan träumt von einer Türkei, die statt 780.000 Quadratkilometern in ihren heutigen Grenzen vier Millionen Quadratkilometer umfassen könne, wie er sagt. Diese neo-imperialen Ambitionen alarmieren die benachbarten Völker. Sie haben Angst vor Erdogans neuer Türkei. Quelle: AFP

Wieder einmal ist man „sehr besorgt“, „zutiefst beunruhigt“ oder, wie Kanzlerin Angela Merkel gleich zum zweiten Mal in dieser Woche, sogar „in höchstem Maße alarmiert“ – es sind die üblichen hilflosen Floskeln, mit denen europäische Politiker jetzt auf die jüngsten Festnahmen kritischer Journalisten und unbequemer Oppositionspolitiker in der Türkei reagieren. Aber ein Greis spricht Klartext. Edzard Reuter, der in der Türkei aufgewachsene und mit dem Land eng verbundene frühere Daimler-Chef, nennt die Dinge beim Namen: Ihn erinnere die Entwicklung in der Türkei „an die Anfänge der Nazi-Zeit“, sagt Reuter.

Der 88-Jährige nennt sich selbst einen „uralten Knacker“. Aber er hat Biss. Sein Vater Ernst Reuter, der Sozialdemokrat und spätere Berliner Bürgermeister, emigrierte mit seiner Familie nach der Machtergreifung der Nazis in die Türkei. Wie sich die Zeiten geändert haben: Heute suchen türkische Demokraten in Deutschland Zuflucht. Männer wie Can Dündar, der frühere Chefredakteur der türkischen Oppositionszeitung „Cumhuriyet“. In der Türkei gehe es jetzt „um grundlegende Prinzipien Europas, um fundamentale Menschenrechte“, sagt Dündar. Da reiche es nicht, dass die Europäer „seit Jahren dauernd besorgt“ seien.

Besorgnis ist tatsächlich etwas wenig angesichts der Entwicklungen in der Türkei. Das Land ist auf dem Weg in eine Diktatur. Massenverhaftungen, Gleichschaltung der Medien, Gängelung der Justiz, Knebelung der Opposition, Polizeiwillkür und Folter – Staatschef Recep Tayyip Erdogan glaubt, sich alles leisten zu können. Mit der Einführung eines Präsidialsystems will Erdogan jetzt legalisieren, was er sich mit dem Ausnahmezustand ohnehin bereits genommen hat: die Machtfülle eines Despoten. Mit der Verfassungsänderung, die dafür nötig ist, kann er dann auch gleich die Todesstrafe wieder einführen. Sie gehört nun mal zum Instrumentarium eines Diktators.

Mehr als laue Proteste muss Erdogan von den Europäern nicht fürchten. Selbst wenn die EU auf die Wiedereinführung der Todesstrafe mit der Aussetzung oder dem Abbruch der Beitrittsverhandlungen reagieren würde – was soll’s. Erdogan hat sowieso kein Interesse mehr an dem „christlichen Klub“. Wenn die Europäer Mumm hätten, würde sie Erdogan mit Wirtschaftssanktionen drohen. Aber für die EU steht der Flüchtlingspakt im Vordergrund. Ihm wird alles untergeordnet, auch die Grundrechte. Kein Wunder, dass sich die pro-europäischen Kräfte, die in der Türkei unter hohem persönlichem Einsatz für mehr Demokratie kämpfen, von der EU im Stich gelassen fühlen.

Weil er keinen Widerstand spürt, verliert Erdogan jedes Maß – gegenüber den Kritikern im eigenen Land ebenso wie im Umgang mit den westlichen Partnern. Deutschland als „sicherer Hafen“ für Terroristen: Dieser Vorwurf kommt aus dem Munde eines Mannes, in dessen Land die IS-Terrormiliz lange freies Geleit genoss. Mit den Festnahmen führender Kurdenpolitiker gießt Erdogan jetzt Öl ins Feuer eines Konflikts, der die Türkei zu zerreißen droht. Erdogans militärische Alleingänge in Syrien und im Irak führen das Land noch tiefer in den Treibsand der nahöstlichen Bürgerkriege. Die außenpolitische Maxime „Null Probleme mit den Nachbarn“ gilt nicht mehr. Heute liegt die Türkei mit fast allen Nachbarn im Streit. Erdogan träumt von einer Türkei, die statt 780.000 Quadratkilometern in ihren heutigen Grenzen vier Millionen Quadratkilometer umfassen könne, wie er sagt. Diese neo-imperialen Ambitionen alarmieren die benachbarten Völker. Sie haben Angst vor Erdogans neuer Türkei.

Im eigenen Land schwimmt Erdogan noch auf einer Welle der Popularität. Er verkörpert den starken Mann, nach dem sich viele Türken sehnen. Die allermeisten Medien huldigen ihm. Die wenigen verbliebenen kritischen Stimmen werden nach und nach zum Schweigen gebracht, wie jetzt mit den Verhaftungen der „Cumhuriyet“-Redakteure. Seit der Niederschlagung des Militärputsches genießt Erdogan in den Augen seiner Anhänger erst recht Heldenstatus. Manche sehen in ihm einen neuen Kalifen. Doch das könnte sich schnell ändern. Seinen Aufstieg zur Macht verdankt Erdogan vor allem dem wirtschaftlichen Aufschwung der 2000er Jahre.

Aber für die Wirtschaft ist die Demontage der demokratischen Institutionen Gift. Das zeigen die Kursverluste der türkischen Lira und der Absturz der Bosporus-Börse am Freitag. Mit der Abwendung vom Westen riskiert Erdogan die wirtschaftliche Zukunft seines Landes. Die Investoren bekommen bereits kalte Füße. Stürzt die Türkei in eine Rezession, dürfte aus der Erdogan-Euphorie schnell Ernüchterung werden. Auch deshalb setzt der türkische Präsident jetzt alles daran, seine Macht mit eiserner Faust zu festigen.

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