Russland lässt seine Muskeln spielen. Seit vergangener Woche hat die Putin-Regierung bereits etwa 16.000 Soldaten auf die Krim entsandt – eine ukrainische Halbinsel, auf der viele russische Staatsbürger leben. Diese wolle man schützen, so Moskau. Schließlich sei die Situation nach dem Sturz des ukrainischen Ministerpräsident Wiktor Janukowitsch, der eine Annäherung an die Europäische Union ablehnte, unübersichtlich. Die neue pro-europäische Regierung in Kiew spricht von einer Invasion. Russland habe „ohne Grund einen Akt der Aggression auf unserem Staatsgebiet begangen“, sagte Ministerpräsident Arseni Jazenjuk der "Bild"-Zeitung. Die Krim werde ukrainisches Territorium bleiben. Auch die Europäische Union und die USA mischen in dem unübersichtlichen Konflikt mit. Was die Akteure abseits der öffentlichen Statements antreibt und wer in der Krim-Krise als Sieger hervorgehen könnte.
Das ist der Status der Halbinsel Krim:
Die Schwarzmeer-Halbinsel Krim ist seit langem zwischen Russen und Ukrainern umstritten. Nach dem Zweiten Weltkrieg gehörte das 26.000 Quadratkilometer große Gebiet zunächst zu Russland. Kremlchef Nikita Chruschtschow machte es 1954 zu einem Teil seiner Heimatrepublik Ukraine innerhalb der Sowjetunion – ein historischer Fehler, wie Moskaus Staatsmedien aktuell wieder betonen. Heute, 23 Jahre nach Auflösung der Sowjetunion, ist die Krim ein autonom verwalteter Teil der unabhängigen Ukraine. Von den mehr als zwei Millionen Einwohnern sind etwa 25 Prozent Ukrainer und knapp 60 Prozent Russen.
Anfang der 1990er Jahre konnte die Ukraine ihre Herrschaft über die Krim nur mühsam durchsetzen. Mit Druck verhinderte Kiew bisher ein Referendum über die Unabhängigkeit, das prorussische Kräfte nun für den 30. März anstreben. Als Zugeständnis wurde 1992 eine Autonome Republik Krim eingerichtet. Die Hafenstadt Sewastopol mit mehr als 300.000 Einwohnern gehört nicht zum Autonomiegebiet, sondern wird direkt aus Kiew verwaltet. Bereits Ende des 18. Jahrhundert baute Russland dort eine Marinebasis, die bis heute Heimathafen der Schwarzmeerflotte ist.
Chronologie - Dramatische Tage auf der Krim
Schon lange ist die Krim zwischen Russen und Ukrainern umstritten. Seit dem Sturz des ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch am 22. Februar haben sich die Spannungen auf der überwiegend von Russen bewohnten Schwarzmeer-Halbinsel dramatisch verschärft. Ein Rückblick:
Wenige Tage nach dem Umsturz in der ukrainischen Hauptstadt Kiew geraten auf der Krim Anhänger und Gegner einer Annäherung an Russland aneinander. Tausende Krimtataren demonstrieren gegen eine Abspaltung der autonomen Republik. Prorussische Demonstranten fordern die engere Anbindung an Moskau.
Bewaffnete besetzen Regionalparlament und Regierungsgebäude in der Hauptstadt Simferopol - um die russische Bevölkerung auf der Krim zu verteidigen, wie sie sagen. Das prorussische Krim-Parlament spricht sich für eine Volksbefragung über die Autonomie der Region im Mai aus und setzt die Regierung ab.
Eine bewaffnete prorussische Gruppe besetzt kurzzeitig den Flughafen der Hauptstadt. Das ukrainische Parlament appelliert an Moskau, alles zu unterlassen, was die territoriale Einheit des Landes gefährde. Nach ukrainischen Berichten sind auf der Krim russische Militärmaschinen mit rund 2000 Soldaten gelandet. Interimspräsident Alexander Turtschinow spricht von einer „militärischen Invasion“ unter dem Deckmantel einer Übung.
Der moskautreue neue Krim-Regierungschef Sergej Aksjonow übernimmt vorübergehend die Befehlsgewalt und bittet Kremlchef Wladimir Putin um Beistand. Er zieht das Referendum über die Zukunft der Krim auf den 30. März vor. Die russische Staatsduma ruft Putin auf, der neuen Regierung auf der Krim Beistand beim Schutz der Bürger zu leisten. Die prorussische Krim-Regierung und die auf der Halbinsel stationierte russische Schwarzmeerflotte vereinbaren eine Zusammenarbeit bei der Sicherung der öffentlichen Ordnung. In mehreren russisch geprägten Städten der Schwarzmeer-Halbinsel gibt es Proteste gegen die Regierung in Kiew.
Putin erklärt, Russland könne bei weiterer Gewalt gegen die russischsprachige Bevölkerung „nicht tatenlos zusehen“. In Kiew ordnet Interimspräsident Alexander Turtschinow die volle Kampfbereitschaft der ukrainischen Armee an und droht, eine Intervention Moskaus werde „der Beginn eines Krieges und das Ende aller Beziehungen sein“.
Das ukrainische Parlament, die Oberste Rada, berät in nicht-öffentlicher Sitzung über die heikle Lage. Die sieben führenden Industrienationen der Welt (G7) setzen alle Vorbereitungstreffen für den G8-Gipfel mit Russland im Juni in Sotschi aus. US-Präsident Barack Obama und Kanzlerin Angela Merkel werfen Russland vor, mit der Intervention auf der Krim gegen das Völkerrecht zu verstoßen.
Auf der Krim herrscht gespannte Ruhe. Russland lehnt die Entsendung einer Mission der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit (OSZE) in die Ukraine ab. Außenminister Sergej Lawrow sagt, es gehe Moskau um die „Frage der Verteidigung unserer Bürger und Landsleute“. Die EU-Außenminister beraten bei einer Krisensitzung in Brüssel über die Lage auf der Krim.
Im Budapester Memorandum haben die USA, Großbritannien und Russland die Unabhängigkeit und politische Integrität der Ukraine garantiert – im Gegenzug für Kiews Beitritt zum Atomwaffensperrvertrag. Das Dokument wurde am 5. Dezember 1994 am Rande des KSZE-Gipfels in der ungarischen Hauptstadt unterzeichnet. Die Regierung in Kiew erhoffte sich von den Sicherheitsgarantien der Atommächte, die auch Weißrussland und Kasachstan erhielten, einen besseren Schutz vor möglichen Gebietsansprüchen.
Das will die Ukraine:
Ausgangspunkt des Konflikts ist die Absetzung des bisherigen ukrainischen Ministerpräsidenten Wiktor Janukowitsch. Auslöser für den Protest gegen Janukowitsch war dessen Entscheidung, ein unterschriftsreifes Partnerschaftsabkommen mit der Europäischen Union auszuschlagen und sich stattdessen Russland zuzuwenden. Viele Anhänger der Opposition streben eine Annäherung an Europa an – aber mehr noch fordern die Ukrainer von ihrer Elite eine verantwortungsvollere Art der Regierungsführung. Die wuchernde Korruption und die Selbstbereicherung der Machthaber sind viele Ukrainer im Westen wie im Osten des Landes leid. Die teilweise gewaltsamen Demonstrationen gegen Janukowitsch gingen vor allem im Westteil des Landes vonstatten, also in der Hauptstadt Kiew oder in Lwiw. Die Protestierenden warfen Molotow-Cocktails auf Polizisten; Scharfschützen richteten Demonstranten mit gezielten Schüssen hin. Die Rede ist von mehreren Hundert Toten.
Die Außenminister von Polen, Frankreich und Deutschland haben am 21. Februar mit Rückendeckung eines russischen Sondergesandten einen Kompromiss ausgehandelt. Demnach sollten die Präsidentschaftswahlen vorgezogen, die Verfassung geändert und die Opposition an der Regierung beteiligt werden. Die Straße akzeptierte die Einigung aber nicht, das Parlament stimmte für die Absetzung von Janukowitsch – und der flüchtete schließlich ins Exil nach Russland. Das ukrainische Parlament hat Arseni Jazenjuk als neuen Ministerpräsidenten bestätigt. Jazenjuk sagte, er wolle einer Abspaltung der Halbinsel Krim keinesfalls zustimmen. Die Krim „war und wird ein Teil der Ukraine bleiben“, sagte der 39-Jährige. Auch, weil sie ein beliebter Urlaubsort für Millionen Touristen und damit ein Geldbringer ist.
Geteilte Meinungen
Obama warnt Russland vor Intervention in der Ukraine
Die Zukunft der Ukraine liege in der Europäischen Union, so die neue Regierung in Kiew. Die Beziehungen zu Russland sollten freundschaftlicher Natur sein. Angesichts der drängenden Wirtschaftsprobleme der Ukraine dürfte Jazenjuk und seinem Kabinett zunächst die Aufgabe zukommen, finanzielle Hilfe von EU und Internationalem Währungsfonds sicherzustellen. Die Summe hat es in sich: Nach Angaben des amtierenden Finanzministers braucht das Land 35 Milliarden Dollar, um die kommenden zwei Jahre überstehen zu können.
Das will Russland:
Moskau sieht die Ukraine nicht nur als Geburtsstätte des russischen Staats und der russisch-orthodoxen Christenheit. Präsident Wladimir Putin hält das Land auch für einen wichtigen Wirtschaftspartner und möchte es in eine Allianz der früheren Sowjetrepubliken einbinden. Deshalb übte Russland auch gehörigen Einfluss aus, um die Partnerschaft mit der EU zu Fall zu bringen. Erst drohte es mit Handelssanktionen, dann lockte es mit einem Kredit von 15 Milliarden Dollar – Geld, das die wirtschaftlich angeschlagene Ukraine dringend benötigt.
Die wirtschaftliche Bedeutung der Ukraine
Das flächenmäßig nach Russland größte europäische Land besitzt jede Menge davon: Eisenerz, Kohle, Mangan, Erdgas und Öl, aber auch Graphit, Titan, Magnesium, Nickel und Quecksilber. Von Bedeutung ist auch die Landwirtschaft, die mehr zum Bruttoinlandsprodukt beiträgt als Finanzindustrie und Bauwirtschaft zusammen. Etwa 30 Prozent der fruchtbaren Schwarzerdeböden der Welt befinden sich in der Ukraine, die zu den größten Weizenexporteuren gehört. In der Tierzucht spielt das Land ebenfalls eine führende Rolle.
Sie ist gering. Das Bruttoinlandsprodukt liegt umgerechnet bei etwa 130 Milliarden Euro, in Deutschland sind es mehr als 2700 Milliarden Euro. Das Pro-Kopf-Einkommen beträgt nicht einmal 3900 Dollar im Jahr. Wuchs die Wirtschaft 2010 um 4,1 und 2011 um 5,2 Prozent, waren es 2012 noch 0,2 Prozent. 2013 dürfte es nur zu einem Plus von 0,4 Prozent gereicht haben.
Exportschlager sind Eisen und Stahl, gefolgt von Nahrungsmitteln, Rohstoffen und chemischen Produkten. Wichtigstes Importgut ist Gas. Auch Erdöl muss eingeführt werden. Die Ukraine könnte aber vom Energie-Importeur zum -Exporteur werden, weil sie große Schiefergasvorkommen besitzt.
Sie ist von der Schwerindustrie geprägt, besonders von der Stahlindustrie, dem Lokomotiv- und Maschinenbau. Ein Grund ist, dass die Sowjetunion einen Großteil der Rüstungsproduktion in ihrer Teilrepublik Ukraine angesiedelt hatte. Eine Westorientierung und die Übernahme von EU-Rechtsnormen könnte das Land zunehmend zum Produktionsstandort für westliche Firmen machen.
Deutschland ist einer der wichtigsten Handelspartner der Ukraine. Gemessen an der Größe des Landes ist das deutsche Handelsvolumen aber unterdurchschnittlich. Zu den wichtigsten deutschen Exportgütern zählen Maschinen, Fahrzeuge, Pharmaprodukte und elektrotechnische Erzeugnisse. Wichtigste ukrainische Ausfuhrgüter sind Textilien, Metalle und Chemieprodukte. Nach Angaben des Ostausschusses der Deutschen Wirtschaft sind knapp 400 deutsche Unternehmen in der Ukraine vertreten. Bei den Direktinvestitionen liegt Deutschland auf Platz zwei hinter Zypern.
Chancen ergeben sich für die deutsche Wirtschaft vor allem im ukrainischen Maschinen- und Anlagenbau. Zudem ist die frühere Sowjetrepublik mit ihren rund 45 Millionen Einwohnern ein potenziell wichtiger Absatzmarkt für Fahrzeuge. Korruption und hohe Verwaltungshürden stehen Investitionen indes im Wege.
Rund ein Drittel der ukrainischen Exporte fließt in die EU. Eine engere wirtschaftliche Verknüpfung durch ein Handels- und Assoziierungsabkommen liegt auf Eis, nachdem Präsident Viktor Janukowitsch auf russischen Druck seine Unterschrift verweigerte. Für die EU ist die Ukraine für die Versorgung mit Erdgas von Bedeutung. Rund ein Viertel ihres Gases bezieht die EU aus Russland, die Hälfte davon fließt durch die Ukraine.
Mit Abstand wichtigster Handelspartner der Ukraine ist Russland. Ein Drittel der Importe stammt aus dem Nachbarland, ein Viertel der Exporte gehen dorthin. Der Regierung in Moskau ist eine Orientierung der Ukraine nach Westen ein Dorn im Auge. Stattdessen drängt sie das Land zum Beitritt zur Zollunion mit Kasachstan und Weißrussland.
Streit flammt zwischen beiden Ländern immer wieder über Gaslieferungen auf. Die Ukraine importiert fast ihr gesamtes Gas aus Russland, muss dafür aber einen für die Region beispiellos hohen Preis zahlen. Der Konflikt über Preise und Transitgebühren hat in der Vergangenheit zu Lieferunterbrechungen geführt, die auch die Gasversorgung Europas infrage stellten.
Putin hat den Zusammenbruch der Sowjetunion einmal als größte geopolitische Katastrophe der Geschichte bezeichnet. Die Ukraine betrachtet er als sein Einflussgebiet – zumal die Krim mit ihren mehrheitlich russischen Einwohnern. Gestützt auf die Einnahmen aus dem Öl- und Gasexport und einen niedrigen Schuldenstand, fühlt sich der Kremlchef stark genug, um die Ukraine zumindest in Teilen in sein Reich zurückzuholen. Der Sturz des leicht zu beeinflussenden Präsidenten Janukowitsch muss er als Wortbruch des Westens aufgefasst haben, dessen Außenminister-Trio Neuwahlen ausverhandelt hatte. Darum griff er zum militärischen Hebel.
Das will die Europäische Union:
Die Europäische Union hat wie Russland ein Interesse an den Zugang zu den ukrainischen Märkten. Darüber hinaus geht es um den Ruf Brüssels. Wenn ein Land wie die Ukraine mit derart großem Willen nach Europa drängt, kann die EU gar nicht anders, als dem Land seine größtmögliche Unterstützung zuzusagen. Alles andere wäre ein Verrat an den eigenen Idealen.
Der politische Gedanke der EU-Integration bedeutet, dass der demokratisch-marktwirtschaftlich orientierte Werteraum Europa die Basis für den Frieden auf dem Kontinent ist – was den Export von Werten rechtfertigt. Würde Brüssel der Ukraine die kalte Schulter zeigen, wäre dies nach EU-Lesart ein Verrat an den eigenen Werten. Ob und wie die Ukraine an die Europäische Union herangeführt werden kann, ist jetzt bis auf weiteres aber nicht das erste Thema. Die Ukraine braucht zunächst dringend Stabilität. Dazu gehört auch, dass der drohende Finanzkollaps abgewendet wird. Problematisch ist, dass die gewünschte Annäherung der Ukraine an die EU konträr zu den Plänen Russlands steht. Dabei ist das Land – selbst mit einem wild gewordenen Putin im Kreml – ebenfalls ein Teil Europas, die Menschen fühlen sich als Europäer. Auch wenn eine Mehrheit vorerst wenig Verständnis für westliche Werte aufbringt.
Das wollen die USA:
Die Vereinigten Staaten von Amerika wollen beweisen, dass sie in der Welt noch ein gewichtiges Wort mitzusprechen haben. Die Zweifel wachsen. Und deshalb gerät US-Präsident Barack Obama zu Hause immer stärker unter Druck. Der Republikaner John McCain, Obamas Gegenkandidat von 2008, kritisierte am Montag die „sorglose Außenpolitik“ des Präsidenten. Weil Obama Schwäche zeige, sei Russland in die Ukraine eingefallen, denn „niemand glaubt mehr an amerikanische Stärke“.
Wenn man schon nicht den Krim-Konflikt beeinflussen können, wie wolle man da im Atomstreit Druck auf den Iran aufbauen?, fragen die Republikaner. Für die Obama-Regierung geht es also schlicht darum, in der Krim-Krise nicht als Verlierer dazustehen. Ein Anschluss der Krim an Russland wäre für Obama ein Desaster.