25 Jahre Wiedervereinigung Der Osten ist kein blühendes Reservat

Hat die ostdeutsche Wirtschaft 25 Jahre nach der Einheit den Anschluss geschafft? Und kommt es darauf überhaupt an? Ein Jubiläumsgespräch, das dem Anlass entspricht: optimistisch, aber nachdenklich.

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Deutsche Einheit: Wo steht die ostdeutsche Wirtschaft 25 Jahre nach der Wiedervereinigung? Quelle: dpa Picture-Alliance

Ja, diese zwei Worte, sie hängen Ostdeutschland um den Hals und den meisten Ostdeutschen zugleich zum Hals hinaus: blühende Landschaften. Helmut Kohls Versprechen an die neuen Landsleute, ausgesprochen direkt nach der Währungsreform 1990. Aber sie hängen eben an ihm. Deshalb so ein Ort wie der Botanische Garten Dresden für das Gespräch, in dem es um die deutsche Einheit geht: viel Grün, wenig Blüten. Wie überall im Osten? Den Versuch der Deutung wagen die Unternehmerin Katja Hillenbrand, jüngst zur „Sächsischen Unternehmerin des Jahres“ gewählt, die als Westdeutsche im Erzgebirge ein Unternehmen für Sensortechnik aufgebaut hat. Außerdem der Ökonom Joachim Ragnitz vom Dresdner ifo Institut, noch ein Wessi und trotzdem einer der besten Kenner der ostdeutschen Wirtschaft, sowie Martin Dulig, sächsischer Wirtschaftsminister (SPD), und der Schriftsteller Ingo Schulze. Letzterer hat ein Heimspiel: Er wurde in Dresden geboren.

WirtschaftsWoche: Frau Hillenbrand, werte Herren, haben Sie 1990 an Kohls „blühende Landschaften“ geglaubt? Oder waren Ihnen allen die Worte des damaligen Bundeskanzlers völlig egal?

Katja Hillenbrand: Weder noch, ehrlich gesagt. Als die Mauer fiel, war ich Abiturientin in Baden-Württemberg. Vom Osten hatte ich eher keine konkrete Vorstellung, irgendwelche Hoffnungen waren unmittelbar mit der Wende nicht verbunden. Aber die Neugierde war geweckt.

Zu den Personen

Martin Dulig: Das war bei mir völlig anders. Als die Mauer fiel, stürzte mein altes Leben gleich mit um. Auf einmal war Freiheit, wo vorher nur eine vorgezeichnete, enge Lebensspur war. Da ich aus einem kirchlich gebundenen Elternhaus kam, war in der DDR für mich eine akademische Ausbildung unmöglich. Ich sollte Steinmetz werden. Noch im Sommer 1989 gab es für mich keinerlei Veranlassung, das infrage zu stellen. Das Gefühl der Freiheit wurde jedoch nach dem Mauerfall bei vielen durch negative persönliche Erfahrungen gedämpft.

Ingo Schulze: So erinnere ich mich auch. Der monatelange Jubel, zu dem der Beitritt heute verklärt wird, war in Wahrheit ziemlich schnell ausgenüchtert. Das war für mich besonders schwierig, ich war in der Bürgerrechtsbewegung aktiv. Und ich hatte bewusst keinen Ausreiseantrag gestellt, weil ich immer dachte: Ein paar müssen noch da sein, wenn die Stunde X kommt. Und als der Moment dann da war, dachten meine Freunde und ich wirklich für einen Moment, nun könnten sich all unsere Utopien verwirklichen. Ich arbeitete am Theater, da fühlten wir uns geradezu als Motor dieses utopischen Momentums. Aber uns ging es um Demokratie, um Selbstbestimmung, das würde auch eine erblühende Wirtschaft bewirken. Wir wollten einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz.

Wo die meisten Trabis und Puhdys-Platten gekauft werden
Die meisten Trabis wurden auf Ebay zwischen September 2013 und August 2014 in Rodewisch in Sachsen verkauft. Die Karte zeigt die Verteilung der Käufe: je kräftiger die Rotfärbung, desto mehr Trabis wurden in der jeweiligen Region verkauft. In den blauen Flächen gab es nur einzelne Verkäufe, bei den grauen Arealen keine Verkäufe. In den letzten 30 Tagen (Stand 6.11.) wurden bei Ebay 64 Trabis verkauft, wobei der durchschnittliche Verkaufspreis 607,47 Euro betrug. Der teuerste Trabant wurde für 4511 Euro verkauft. Quelle: REUTERS
Das DDR-Sandmännchen zählt zu den Ebay-Bestsellern. 161 DDR-Sandmännchen wurden in den letzten 30 Tagen bei Ebay verkauft, wobei der durchschnittliche Verkaufspreis 9,34 Euro betrug. Im vergangenen Jahr wurden die meisten DDR-Sandmännchen an Käufer in Velten und Oberkrämer in Brandenburg verkauft. Quelle: dpa
Kein Sandmann ohne Begleitung von Schnatterinchen, Pittiplatsch  und Moppi. In Menge gesehen wurde Pittiplatsch am meisten verkauft, gefolgt von Schnatterinchen und Moppi. Die Pittiplatsch-Fankarte zeigt, dass die meisten Käufer im Osten  leben. Doch auch im früheren Zonenrandgebiet und selbst im tiefen Westen konnten sich einzelne Pittiplatsch-Hotspots etablieren. Quelle: dpa Picture-Alliance
Ein großer Renner beim Online-Auktionshaus sind die Motorroller von Simson. Insgesamt 20.104 Schwalben werden aktuell bei Ebay angeboten. In den letzten 30 Tagen wurden bei Ebay 12.275 Simson Schwalben verkauft. Die meisten Schwalben wurden im vergangenen Jahr an Käufer in Apolda in Thüringen verkauft. Auch hier zeigt die Karte die regionale Verteilung der Käufe von grau (keine Käufe) über blau/lila bis zu rot (65 bis 700 Verkäufe). Quelle: Gemeinfrei
Neben motorisierten Fahrzeugen erfreuen sich auch die Ost-Fahrrad-Marken wie Mifa und Diamant großer Beliebtheit. 604 Mifa- und 655 Diamant-Fahrräder wurden bei Ebay In den letzten 30 Tagen verkauft, wobei der durchschnittliche Verkaufspreis der Mifa-Räder mit 45,58 Euro höher lag als der der Diamant-Räder (24,78 Euro). Quelle: dpa
Käufer in Wesseling in Nordrhein-Westfalen investierten im vergangenen Jahr am meisten in Artikel der Rockband Puhdys. Die meisten Artikel, seien es CDs, Schallplatten oder Musikcassetten der Puhdys, wurden an Käufer in Berlin verkauft. Die Karte zeigt aber auch, dass es längst auch in Schleswig-Holstein Puhdys-Fans gibt. Quelle: dpa
Die „West-Marke“ Adidas ist 25 Jahre nach dem Fall der Mauer im Osten ähnlich beliebt wie in den alten Bundesländern. Rote und blaue Areale sind auf der Karte ähnlich verteilt. Der größte Umsatz mit Adidas-Turnschuhen wurde im vergangenen Jahr durch Käufer in Schwedt an der Oder in Brandenburg generiert. Die meisten Adidas-Schuhe wurden an Ebay-Käufer in Schwerin/Umland verkauft. Quelle: dpa

Schließen wir daraus richtig, dass wirtschaftliche Hoffnungen bei Ihnen gar keine große Rolle gespielt haben?

Dulig: Für mich tatsächlich weniger, ich war ja 15! Für mich stand auf einmal die Welt offen. Aber bei vielen Menschen war das anders. Das hat man auch auf den Demonstrationen gesehen. Schon Ende 1989 ging es nicht mehr um Bürgerrechte, zumindest nicht nur. „Kommt die D-Mark nicht zu uns, kommen wir zu ihr“, wurde skandiert. Die Vereinigung stand plötzlich ganz oben auf der Liste der Forderungen. Das hat aus den Protesten eine Massenbewegung gemacht.

Joachim Ragnitz: Da stimme ich Ihnen zu. Das Verlangen nach Grundrechten bildete den Anfang der Bewegung, aber die breiten Massen wollten vor allem den westdeutschen Wohlstand, Konsum, Westwaren. Das trieb sie an.

Schulze: Wir waren ziemlich unvorbereitet, auch in wirtschaftlicher Hinsicht. Es ging um grundlegende Rechte. Über das Recht auf Arbeit sprach niemand, das war für uns selbstverständlich.

"Eine Stunde Null gab es doch gar nicht"

Wie sehen Sie das mit Abstand, 25 Jahre später? Haben die Deutschen die Stunde null genutzt?

Dulig: Eine „Stunde null“ gab es doch gar nicht, und genau darin sehe ich heute eines der Hauptprobleme, welches die Entwicklung Ostdeutschlands gehemmt hat. Die DDR trat der BRD bei und löste sich dann quasi rückstandslos auf. Für die Menschen im Osten änderte sich von heut auf morgen alles, für den Westen hingehen änderte sich fast nichts ...

Hillenbrand: ... deshalb hat viele junge Westdeutsche die Einheit auch so wenig interessiert, sie ging uns irgendwie nichts an. Sie blieb erst mal im fernen Westen gefühlt so folgenlos.

Dulig: Die Chance, aus der Kraft der Einheit ein neues Land und eine gemeinsame Verfassung zu entwickeln, wurde so verpasst. Das aber hätte viele der Minderwertigkeitskomplexe verhindert, die Wirtschaft und Gesellschaft in Ostdeutschland bis heute mit sich herumschleppen. Auch ein Vierteljahrhundert später muss man sich, wenn man über Fehler und Unterschiede redet, immer eines klarmachen: Man hätte die Einheit auch anders gestalten können.

Schulze: So, wie es gelaufen ist, entsprach es eben den Vorstellungen der bundesdeutschen Regierung. Ich darf daran erinnern, das der Spruch „Wir sind ein Volk“ erstmals auf einem Aufkleber der CDU bei einer Leipziger Demonstration auftauchte. Helmut Kohl hat den Ostlern den Weihnachtsmann aus dem Westen gegeben – und die haben gerne daran geglaubt. Die D-Mark wurde der DDR auf Regierungsebene angeboten, bevor sie auf der Straße gefordert wurde. Dabei musste doch jedem, der einen halbwegs verständigen Blick auf das Thema hatte, klar sein, dass die Währungsunion niemals funktionieren konnte.

So verschieden sind Ost und West

Hillenbrand: Na ja, Sie dürfen umgekehrt aber auch nicht vernachlässigen, wie wenig wir Westdeutschen über Ostdeutschland wussten. Das war für viele, sicherlich auch unter den Politikern, letztlich eine sozialistische Blackbox. Wer wusste denn, wie marode hier vieles war? Als ich das erste Mal nach Oelsnitz kam, wo ich noch heute wohne und arbeite, war ich erschrocken. Wie die Straßen manchmal aussahen! Viele Wohnungen hatten die Toilette auf dem Hof. Wie bei Michel aus Lönneberga kam mir das alles vor – und ich rede immerhin schon von 1996.

Ragnitz: Gut, dass Sie das sagen. Es ist wichtig, sich immer wieder diese Bilder in Erinnerung zu rufen, wenn man eine Bilanz der Einheit ziehen will. Denn dann sieht man auch, wie viel seitdem erreicht wurde.

Reden wir also zum Jubiläum, im Großen und Ganzen, von einem Erfolg?

Dulig: Wir können nicht über Erfolg oder Misserfolg der Einheit sprechen, ohne die Treuhand zu erwähnen. Das Ziel der Treuhand war, die Ostwirtschaft möglichst schnell abzuwickeln. Das nannte sich zwar oft Joint Venture, aber das waren meist keine Partnerschaften auf Augenhöhe. Und auch der Einigungsvertrag war kein langfristig ausgeklügelter Masterplan, sondern eher ein schnell gefertigter Ehevertrag.

Ragnitz: Bis vor Kurzem habe ich ähnlich argumentiert. Inzwischen sehe ich das anders. Denn zumindest politisch war es klug, es so zu machen, wie es gemacht wurde. Mit der Treuhand schuf man den perfekten Sündenbock, den man später für alle Fehler im Osten verantwortlich machen konnte. Sehr bequem.

Welche Ostmarken auch im Westen punkten
Rotkäppchen ist der unangefochtene Sieger einer Bekanntheits-Studie, die die MDR-Werbung in Auftrag gegeben hat. 2014 untersuchte das IMK zusammen mit der MDR Werbung für die repräsentative West-Ost-Markenstudie 60 Ostmarken und deren Image. Ziel der Studie war es, herauszufinden, welche ostdeutschen Marken den Bewohnern jeweils in Ost- und Westdeutschland bekannt sind. Insgesamt wurden 3000 Personen, 2000 in West- und 1000 in Ostdeutschland, befragt. Auf beiden Seiten wurden die Namen von ostdeutschen Marken genannt, verbunden mit der Frage: Kennen Sie die? Rotkäppchen erreichte im Osten 93 Prozent Bekanntheitsgrad, im Westen waren es 85 Prozent. Doch längst nicht alle Ost-Marken haben so überzeugend abgeschnitten. Quelle: REUTERS
Im Osten ist sie die zweitbeliebteste Cola: die Vita Cola. 1958 bekam Hans Zinn von der Regierung den Auftrag, ein Getränk zu entwickeln, das nah an die amerikanische Coca-Cola herankommt. Dabei war die Ostmarke 1990 wieder vom Markt verschwunden. Vier Jahre später erlebte das Erfrischungsgetränk dann sein großes Comeback. Im Jahr 2013 verzeichnete die Marke sogar einen Absatzrekord. Vita Cola ist 89 Prozent der Ostdeutschen ein Begriff, den Westdeutschen allerdings weniger. In den Top Ten der bekanntesten ostdeutschen Marken in Westen ist sie nicht vertreten. Quelle: ZB
Die Biermarke Radeberger, traditionell in Ostdeutschland hergestellt und schwerpunktmäßig vermarktet, ist 88 Prozent der Ostdeutschen ein Begriff. In Westdeutschland kennen 79 Prozent die Biermarke, die mit der Dresdner Semperoper in TV-Spots wirbt. „Mittlerweile gelten viele (Ostmarken) als kultig, werden verbunden mit Regionalität und Nachhaltigkeit“, sagt Sören Schiller vom Institut für angewandte Marketing- und Kommunikationsforschung (IMK). Quelle: dpa
Er gilt als der Marktführer im gesamtdeutschen Senfreich. Und das, obwohl er konsequent seine Rezeptur mit einem leichten Meerrettichgeschmack beibehalten hat, was ihn von den Mitbewerbern unterscheidet. Der Bautz'ner Senf ist eine der bekanntesten Ostmarken im Osten (85 Prozent ), im Westen ist die Marke nur 43 Prozent ein Begriff. Ostmarken werden in Westdeutschland zwar bekannter – aber es bleiben Unterschiede zwischen Ost und West. Quelle: dpa
„Alles im grünen Bereich“ lautet der Slogan der Brauerei Wernesgrüner. Ihre Produkte kennen in Ostdeutschland 83 Prozent der Befragten, im Westen sind es 52 Prozent. Musiker Peter Maffay ließ sich auf seiner Tour 2011 von dem Getränkehersteller sponsern. Quelle: dpa
Auch die Biermarke Köstritzer ist den Konsumenten in ganz Deutschland ein Begriff, spätestens nachdem Bundeskanzlerin Angela Merkel 2013 auf einer Wahlveranstaltung der CDU ein Köstritzer Schwarzbier getrunken hatte: 83 Prozent kennen es im Osten, im Westen gaben 67 Prozent die Marke als bekannt an. Quelle: dpa
Auch Florena hat im Westen zu kämpfen, wenn es um seine Bekanntheit geht. In seinem Segment muss das Unternehmen unter anderem gegen die Riesen Unilever und Beiersdorf antreten, die ihre Marken sehr stark am Markt halten. 82 Prozent der Befragten in Ostdeutschland kennen Florena, 40 Prozent in Westdeutschland. Quelle: dpa

Schulze: Bequem vielleicht, aber trotzdem dumm. Die Wirtschaftsleistung schrumpfte auf 27 Prozent, das war stärker als in jedem anderen Land im Osten, selbst mehr als in jenen, die einen Bürgerkrieg erlebt hatten. Es wurde einfach alles privatisiert, alles. Das verträgt keine Wirtschaft, wenn man sie von einem Tag auf den anderen auf den Markt wirft. Die Treuhand musste scheitern unter diesen Vorgaben.

Hillenbrand: Dieses Lamento, meine Herren, ist mir ein bisschen zu einseitig. Man hat doch meistens das Gute aus dem Westen übertragen.

Ragnitz: An was denken Sie? An die Verwaltung?

Hillenbrand: Ja, zum Beispiel.

Ragnitz: Sie haben insofern recht, als dass das im Westen erfolgreiche Systeme waren. Aber für eine Wirtschaft im Totalumbruch wie die ostdeutsche Anfang der Neunzigerjahre war die Westbürokratie viel zu hochgezüchtet. Da hätte es viel einfachere Strukturen gebraucht.

Osten ist nicht gleich Osten

Haben die westdeutschen Eliten dann bei der Aufgabe versagt, die ostdeutsche Wirtschaft aufzubauen?

Dulig: Meine Bilanz des Aufbaus nach der Wende fällt jedenfalls zweigeteilt aus. Insgesamt war das erfolgreich. Der Aufschwung hat aber zu viele Verlierer hinterlassen. Etwas, was die Menschen gelernt hatten, was in der DDR auch geschätzt wurde, war plötzlich nichts mehr wert. Stattdessen schickte man sie von Umschulung zu Umschulung und verstärkte nur das Gefühl: So, wie du bist, taugst du nichts mehr. Daraus speist sich meiner Ansicht nach bis heute ein Großteil des Frustes, der Leute in die Arme von Pegida treibt. Menschen, die diesen Verlust ihrer Aufgabe nie kompensieren konnten, das Gefühl haben, ihr Leben sei nichts wert gewesen, die haben jetzt Angst, noch den letzten Teil ihrer Identität zu verlieren: ihre Heimat.

Schulze: Wir dürfen auch keinesfalls die innerdeutsche Völkerwanderung unterschätzen. Aus der Erfahrung, überflüssig zu sein, die Sie, Herr Dulig, sehr richtig beschreiben, entstand vielfach Fatalismus und Perspektivlosigkeit. Andere sahen ihre Chance und gingen weg. Wenn ich heute zurückkomme in meine Heimatstadt Dresden, bin ich immer überrascht, wie viele Alte ich hier sehe. Ganz zu schweigen von der ostdeutschen Provinz.

Ragnitz: Über anderthalb Millionen Menschen haben Ostdeutschland nach der Wende verlassen. Das sieht man eben.

Schulze: Und das waren nicht die Schlechtesten!

Ragnitz: Im Gegenteil: Es waren die Besten.

Wie wir Deutsche ticken
Quelle: YouGov
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Muss man angesichts dieser Voraussetzungen nicht doch sagen: Der Osten ist recht weit gekommen?

Dulig: Verglichen mit 1990, ist die wirtschaftliche Entwicklung des Ostens ein voller Erfolg. Natürlich. Man muss ja sehen, dass es damals kaum noch wirtschaftliche Fundamente gab. In Sachsen hatten wir noch ein bisschen industrielle Basis. Wenn ich heute, nach 25 Jahren, auf die Wirtschaft in Ostdeutschland schaue, sage ich: Das hat sich wirklich gut entwickelt. Aber bezahlt haben wir dies mit höherer Arbeitslosigkeit, Deindustrialisierung und niedrigen Löhnen. Das gehört zur Wahrheit dazu.

Ragnitz: Der Blick auf die ostdeutsche Wirtschaft ist ein wenig schizophren. Jahrelang hagelte es fast immer nur negative Schlagzeilen. Seit einigen Jahren überwiegen plötzlich Jubelmeldungen. Es gibt unbestreitbar einen Aufschwung Ost, aber dieser Boom ist begrenzt und findet in Städten wie eben hier in Dresden statt, auch in Leipzig oder Jena. Aber für einen, der im Erzgebirge seine Scholle bewirtschaftet und davon lebt, muss das doch wie Hohn wirken. Für den hat sich rein gar nichts geändert. Und dass die Arbeitslosigkeit sinkt, liegt doch zu einem erheblichen Teil daran, dass die Leute abwandern oder älter werden und so aus der Statistik verschwinden.

Hat Ostdeutschland sich zu lange hinter den unverschuldeten Unzulänglichkeiten versteckt? Müssten die Politiker heute nicht endlich sagen: Transfers waren gestern, wir schaffen das jetzt alleine?

Dulig: Klingt schön, ist aber illusorisch. Wir werden weiterhin von Transfers abhängig sein, das ist leider ein Fakt, dafür muss ich nur in den Landeshaushalt schauen. Von unseren Einnahmen sind nur rund 60 Prozent eigene Steuereinnahmen.

Hillenbrand: Da wünschte ich mir Selbstbewusstsein, Herr Dulig! Wir in Sachsen könnten wirklich mehr Stolz und Vertrauen brauchen und uns künftig auf unsere eigenen Unternehmen und deren Mitarbeiter verlassen. Wir können es nämlich selbst reißen. Bei allem nötigen Realismus: Wir haben hier eine Menge aufgebaut, auf das wir stolz sein können. Etwas, das Kräfte weckt, weil wir auf uns selbst schauen können – anstatt uns immer nur zu rechtfertigen, warum es nicht ohne andere geht.

Das sind die größten ostdeutschen Unternehmen
Verbundnetz Gas AG Quelle: dpa
Rotkäppchen-MummDie Rotkäppchen-Mumm-Sektkellereien gibt es erst seit 2002 – seit Mitte des 19. Jahrhunderts wird in Freyburg in Sachsen-Anhalt aber schon Rotkäppchen-Sekt hergestellt. 2002 übernahm Rotkäppchen die Sektmarke Mumm. Im Jahr 2014 machte das ostdeutsche Traditionsunternehmen einen Umsatz von fast 900 Millionen Euro. Die Sektkellereien beschäftigten im vergangenen Jahr 571 Mitarbeiter. Quelle: AP
Jenoptik AG Quelle: dpa
FAM Magdeburger Förderanlagen und Baumaschinen Quelle: dpa/dpaweb
Deutsche Bahn Quelle: dpa
Porzellan mit Zwiebelmuster Quelle: dpa
FEP Fahrzeugelektrik Pirna Quelle: dpa

Ragnitz: Man darf da nicht den Fehler machen, den Osten über einen Kamm zu scheren. Manche Regionen können locker auf eigenen Beinen stehen, andere werden es auch in 30 Jahren nicht schaffen. Aber das zieht sich quer durch die Bundesländer. Im Norden Sachsens ist genauso wenig Dynamik wie im Süden Brandenburgs. Und im Westen sieht es, ganz nebenbei bemerkt, hier und da auch zappenduster aus.

Dulig: Wir sollten sehr vorsichtig damit sein, im Osten zu sehr auf dicke Hose zu machen. Auch wenn es aufwärtsgeht, reine Euphorie glauben uns die Leute nicht.

Schulze: Allerdings nicht! Ich habe das in der Kleinstadt Altenburg erlebt, fast jeder Ostdeutsche kennt das auch: Politiker, die einem erzählen, morgen oder übermorgen entstehe hier eine riesige Ansiedlung. Und dann passiert: nichts. Optimismus ist gut, aber es muss eine Grundlage dafür geben.

Im Osten herrscht Stillstand

Eine Zeit lang hat die Wirtschaft im Osten stetig schneller zugenommen als im Westen. Seit einigen Jahren aber ist damit Schluss, der Osten holt nicht mehr auf, trotz aller Geldinjektionen. Müssen wir uns mit diesen Unterschieden endgültig abfinden?

Ragnitz: Sie können das Fragezeichen weglassen: Berlin hat sich damit abgefunden, dass große Teile Ostdeutschlands auf lange Sicht strukturschwach bleiben werden. Ebenso wie der Hunsrück oder der Bayerische Wald, nur eben auf noch bescheidenerem Niveau. Es gibt nun mal keine Dax-Konzerne im Osten, und erschaffen kann man sie mit dem politischen Zauberstab auch nicht. Wirtschaftspolitik kann solche Entwicklungen in Maßen forcieren, auch die demografische Entwicklung können wir versuchen zu beeinflussen. Aber die ganze Richtung verändern, das kann Politik nicht. Deshalb: Der Osten hat 25 Jahre Welpenschutz genossen, jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, selbstständig zu werden.

Hillenbrand: Es ist ja auch nicht so, dass sich die Wirtschaft aus dem Westen hier nicht engagiert hätte. Aus Baden-Württemberg heraus hat es beispielsweise viele Ansiedlungen im Osten gegeben. Da ist im Stillen sehr viel passiert.

Woran mangelt es ganz konkret? Warum kann der Osten diese Dynamik selbst noch nicht entfachen?

Ragnitz: Das mag vage klingen, aber ich glaube tatsächlich, dass viele ostdeutsche Unternehmer ein Coaching bräuchten, das ihnen den Willen vermittelt, zu wachsen. Man hat sich hier jahrelang auf Förderperioden und Insolvenzvermeidung konzentriert, da ist vielen der Gedanke an Wachstum und Risiko verloren gegangen.

Schulze: Interessant, dass Sie das überhaupt als Problem betrachten. Warum stellen wir eigentlich nicht andere Fragen: Wollen wir überhaupt wachsen? Und wenn ja, wie? Der Osten muss nicht jeden Westfetisch übernehmen.

Dulig: Die Beobachtung stimmt aber zweifellos, Herr Ragnitz hat da einen Punkt. Ich beobachte immer wieder, dass Unternehmer, die ein tolles Produkt haben, sagen: Mir geht es doch gut in meiner Nische, warum soll ich denn immer größer werden? Diese Mentalität ist hier tatsächlich weiter verbreitet als im Westen. Vielleicht steckt darin die Angst, etwas zu verlieren, was man sich gerade erst aufgebaut hat.

Hillenbrand: Ich merke das ja an mir selbst, obwohl ich aus dem Westen bin. Wir sind in wenigen Jahren sehr schnell gewachsen, von drei Mitarbeitern auf fast 80. Und je größer sie werden, desto mehr müssen sie sich mit Dingen beschäftigen, die gar nichts mit ihrem Produkt zu tun haben. Besteuerung, Zulassungen und so weiter, sie entfremden sich von ihren Ursprüngen, wenn sie nicht gegensteuern. Ich habe dafür also ein gewisses Verständnis. Immerhin ist hier in Sachsen die Hochachtung für kleine, bewegliche, kreative Unternehmen wiederum sehr groß. 80, 100, 150 Mitarbeiter, das empfinde ich heute selbst als ein menschliches Maß.

Wie fallen Ihre persönlichen Erwartungen an die kommenden 25 Jahre vereinigtes Deutschland aus?

Ragnitz: Wir werden dann nicht mehr von „Ostdeutschland“ sprechen, als sei es ein Reservat. Und zwar, weil sich die Regionen hier weiter auseinander entwickeln werden. Die Wachstumszentren werden wohlhabender und attraktiver und noch mehr als heute mit den Städten im Westen mithalten können. Dresden zum Beispiel wird es dann ziemlich sicher mit Karlsruhe aufnehmen können.

Dulig: Auch ich bin optimistisch. Mit der jetzt heranwachsenden und den kommenden Generationen werden die Unterschiede immer mehr verschwimmen, auch wirtschaftlich – das sehe ich genauso. Wir werden weiterhin Brüche haben, aber die werden weniger mit Ost und West zu tun haben, sondern vielmehr mit Stadt und Land. Außerdem glaube ich, dass wir die jetzt anstehende große Herausforderung mit der Integration von Flüchtlingen als Chance nutzen werden, um unser Land besser zu machen. Genau das ist eine große Chance für den Osten.

Ragnitz: Die Glücksforschung zeigt uns ja heute schon, dass die Lebenszufriedenheit nicht zwingend mit dem Einkommen zusammenhängt. Da schneiden auch Gegenden gut ab, in denen es wirtschaftlich wenig Positives gibt. Das ist das eine. Und das andere: In dem Moment, in dem diese große, historische Erzählung der deutschen Wiedervereinigung verblasst, werden auch weiter bestehende Unterschiede weniger darauf bezogen. Das wird helfen.

Hillenbrand: Wie wäre es damit: Hoffen wir doch einfach alle gemeinsam, dass wir ein solches Gespräch über Unterschiede zwischen Ost und West in 25 Jahren gar nicht mehr führen müssen.

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