500 Jahre Reformation "Wir brauchen Luther als Notbremse"

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Notbremse der Postmoderne

Sie wollen sagen, es bedürfe nicht nur des anderen, sondern auch des ganz anderen, um Identität zu gewinnen?
Richtig, denn wenn Sie sich auf rein dialogische Verhältnisse einlassen, können Sie nie sicher sein, nicht doch in die Narzissmusfalle zu tappen. Die meisten Liebesverhältnisse scheitern ja daran, dass wir den anderen als Double unserer selbst wahrnehmen. Dieses Problem taucht in der Gottesliebe nicht auf, seit wir Gott als den ganz anderen erfahren haben: So ist es schon bei Luther. Er hat allerdings eine besonders elegante Lösung gefunden, sozusagen einen Trick, indem er Gott verdoppelt hat: Demnach gibt es den lieben Gott und den verborgenen, fremden Gott. Letzteren hat die evangelische Kirche erfolgreich verdrängt. Damit aber verliert das Glaubensgebäude sein Fundament...

...zu Luthers Gedanken gehört, dass die Freiheit des Christenmenschen in seiner Gottesknechtschaft, die Furchtlosigkeit in seiner Gottesfurcht gründet. Erklären Sie uns bitte, wie das zusammengeht.
Ganz einfach: Wenn Sie vor dem absoluten, gnädigen Vater in die Knie gehen, brauchen Sie vor nichts anderem mehr Angst zu haben. Dann sind Sie frei. Das ist das Irre, das Tolle an dieser Sache: Wenn Sie sich einlassen auf den Glauben an den allmächtigen Gott, dann kann Ihnen nichts mehr passieren, dann sind Sie unantastbar. Sie unterwerfen sich dem absoluten Herrn – und brauchen keinen empirischen Herrn mehr zu fürchten. Der kann Ihnen zwar das Leben zur Hölle machen, aber das, was Ihre Identität ausmacht, ist gerettet und geheilt.

Eine extrem unparitätische Konstellation.
Allerdings. Deshalb ist der junge, um sein Seelenheil ringende Luther so authentisch, wenn er gesteht: Ich hasse Gott in seiner Absolutheit. Die einzige Möglichkeit, diese Blockade zu überwinden, war für ihn der Glaubensgehorsam, der zur absoluten Befreiung führte.

Eine Aufforderung zur Selbsterniedrigung?
Unbedingt. Mit der Aktualität Luthers ist bitte nicht gemeint, dass er uns gut in den Kram passt, sondern dass er ein Stachel ist. Diesen Stachel haben wir nötiger denn je. Unsere fabelhafte Postmoderne, das therapeutische Zeitalter, der technische Fortschritt, dem wir die fantastischsten Erfolgsgeschichten verdanken, all das hat uns existenziell keinen einzigen Schritt über Luther hinausgeführt. Wenn Self-Tracking mittlerweile das physiologische Pendant zur Selbstvervollkommnung ist, dann ist das so erbärmlich, dass man die Notbremse ziehen möchte. Genau das macht Luthers Aktualität aus: Wir brauchen ihn als Notbremse.

Auch die evangelische Kirche?
Joseph Ratzinger hat gesagt: Lieber sollte die katholische Kirche wieder zur Sekte werden, als ihre Dogmen zu verraten. Wenn sich zu diesem Satz mal jemand in der evangelischen Kirche durchringen könnte, dann würde ich sagen: Da ist er, der Mut Luthers. Jetzt gibt es wieder eine Chance.

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