Bagatellfälle verstopfen Notaufnahmen Die eingebildeten Kranken

Seite 3/3

Ampel-Diagnosesystem stuft Dringlichkeit ein

Mit Hilfe dieses Diagnosesystems, das viele europäische Länder nutzen, verknüpfen geschulte Pflegekräfte die Symptome der Patienten mit bestimmten Farben. Rot bedeutet, alle anderen Tätigkeiten müssen warten, der Patient braucht sofort Hilfe. Blau heißt, den Patienten kann man auch erst nach 120 Minuten versorgen. In der Realität warten Betroffene auch mal vier Stunden, weil Ärzte den Ansturm nicht bewältigen können.

Auf dem Tisch im Aufenthaltsraum liegt eine angebissene Spinatpizza, die niemand mehr essen wird. Sie ist kalt. Daneben steht eine Plastikbox mit Kirschgummibärchen. Eine junge Unfallchirurgin fischt nach den Früchtchen und stopft sich ein paar in den Mund. „Ich liebe diese Kirschen“ sagt sie. „Du kannst auch echte haben“, sagt Marion Hoffmann. „Dann könntet ihr mich intubieren, das wollt ihr nicht“. „Hin und wieder intubiere ich ganz gern“, scherzt Hoffmann.

Was gegen Erkältung hilft - und was nicht
Fast jedes dritte von rund 2000 überprüften rezeptfreien Medikamenten ist laut Stiftung Warentest wenig gegen Erkältungen geeignet. Darunter fallen bekannte Mittel gegen Erkältung, Schnupfen, Halsentzündung, Verstopfung, Durchfall oder Insektenstiche. Oft schneiden die Kombinationen verschiedener Wirkstoffe schlecht ab, etwa von Schmerzmitteln und anregenden Mitteln in Erkältungsmedikamenten. In anderen Fällen bemängeln die Tester hohen Alkoholgehalt etwa bei einem Erkältungsmittel für die Nacht oder ungeeignete Zusammenstellungen bei Tabletten gegen Halsinfektionen. Die 2000 rezeptfreien Medikamente sind Teil einer umfassenderen Datenbank von Stiftung Warentest mit Arzneimitteln. Quelle: dpa
Bei Erkältung und Grippe hat die Apotheke so einiges an rezeptfreien Mitteln zu bieten. Doch viele halten nicht, was sie versprechen.Aspirin Complex Granulat: Nicht sinnvolle Kombination aus einem Schmerzmittel und einem anregenden Mittel, das über die Blutbahn im ganzen Körper verteilt wird.Doregrippin Tabletten: Wie beim Aspirin Complex Granulat stuft die Stiftung Warentest die Kombination der Mittel als nicht sinnvoll ein. Grippostad C Kapseln: Enthält ein müde machendes Antihistaminikum, das über die Blutbahn im ganzen Körper verteilt wird.WICK DayMed und MediNait (Kapseln und Getränke): Nicht sinnvolle Kombination unter anderem aus einem Schmerzmittel, einem Hustenmittel und einem anregenden Mittel.Alternative: Die einzelnen Erkältungssymptome sollten besser getrennt behandelt werden. Gegen Schmerzen und Fieber reicht Parazetamol allein. Bei Schnupfen ist die kurzzeitige Anwendung von abschwellenden Nasentropfen verträglicher. Quelle: Fotolia
Schnupfen und AllergienRhinopront Kombi Tabletten: Wenig geeignet bei Schnupfen. Nicht sinnvolle Kombination an Mitteln.Reactine duo Retardtabletten: Hilft kaum bei allergischem Schnupfen. Wenig sinnvolle Kombination aus einem Antihistaminikum und einem anregenden Stoff, der über die Blutbahn im ganzen Körper verteilt wird und dabei auch die Schleimhäute abschwillt. Bei Daueranwendung kann es zu schwerwiegenden Nebenwirkungen kommen.Alternative: Tabletten, Tropfen oder Saft mit Cetirizin oder Loratadin sollen bei akuten Allergie-Beschwerden helfen. Cromoglizinsäure als Nasenspray zur Vorbeugung (früh genug mit der Behandlung beginnen, unkonservierte Präparate bevorzugen). Bei einem normalen Schnupfen ist die kurzzeitige Anwendung von abschwellenden Nasentropfen verträglicher. Quelle: dpa
Nahrungsergänzungsmittel mit Zink und Vitamin C sollen das Immunsystem unterstützen. Natürlich braucht der Körper bestimmte Nährstoffe, damit das Abwehrsystem gegen Bazillen und Viren funktioniert. Doch Vitamin C- und Zinktabletten können Erkältungen nicht heilen oder gar verhindern. Laut der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) gibt es keine wissenschaftlichen Beweise für den Nutzen der bunten Pillen. Die Zufuhr ist normalerweise über die Ernährung sichergestellt, Mangelzustände an Vitamin C und Zink kommen in Deutschland nur selten vor. Gute Vitamin C-Lieferanten sind zum Beispiel Orangensaft, Brokkoli, Kiwi oder rote Paprika. Zink ist zum Beispiel in Fleisch, Ei, Vollkorn- und Milchprodukten enthalten. Die empfohlene Tagesdosis wird etwa bereits durch ein Stück Rindfleisch (150 Gramm) und ein Glas Milch gedeckt. Quelle: dpa
Doch nicht nur gegen Erkältungssymptome gibt es rezeptfreie Mittelchen, die leider nichts bewirken. Auch gegen andere Wehwehchen ist nutzloses Kraut gewachsen... Quelle: dpa
SchürfwundenBrand- und Wundgel Medice: Das Gel ist laut Stiftung Warentest wenig zur Wundpflege geeignet. Die therapeutische Wirksamkeit ist nicht ausreichend nachgewiesen. Zudem kann der Inhaltsstoff Benzethonium leicht Allergien auslösen.Alternative: Leichten Verbrennungen mit unverletzter Haut unter fließendem Wasser schnell kühlen. Offene Wunden sollten aber nicht selbst behandelt werden.Pyolysin Salbe: Auch diese Salbe für oberflächliche Wunden verfehlt ihre Wirkung.Alternative: Povidon-Jod-Lösung eignet sich zum Desinfizieren, Dexpanthenol-Salbe zur Pflege bei oberflächlichen Schürfwunden. Quelle: Fotolia
HalsschmerzenDobendan Strepsils Dolo bzw. Dolo-Dobendan Lutschtabletten: Die Kombination der Inhaltsstoffe ist nicht sinnvoll: Antiseptika wie Cetylpyridiniumchlorid sind gegen Viren nur lückenhaft oder gar nicht wirksam. Bakterien in tieferen Schleimhautschichten werden zudem nicht erreicht. Das schmerzstillende Benzokain kann leicht Allergien hervorrufen.Dorithricin Lutschtabletten/ Lemocin Lutschtabletten: Auch diese Tabletten helfen nicht wirklich gegen Entzündungen im Hals. Das Antibiotikum Tyrothrizin wirkt nur oberflächlich und erreicht Bakterien in tieferen Gewebeschichten nicht. Auch hier ist das schmerzstillende Benzokain enthalten, das leicht Allergien auslösen kann.Locabiosol 0,125 mg Spray: Die therapeutische Wirksamkeit des Antibiotikums Fusafungin bei Halsinfektionen ist nicht ausreichend nachgewiesen. Die Anwendung als Spray kann bei empfindlichen Personen zu Asthmaanfällen führen.Alternative: Halsentzündungen werden häufig durch Viren verursacht, bei denen Antibiotika nicht wirken. Zuckerfreie Halsbonbons befeuchten die Schleimhäute und  können Schluckbeschwerden lindern. Lutschtabletten mit Ambroxol oder Lidokain wirken schmerzstillend. Quelle: Fotolia

„Nicht mich“, ruft die Chirurgin, die schon den nächsten Patienten ansteuert, während die Demente im Nebenzimmer wieder einmal stöhnt. Anders als Hoffmann geht die Chirurgin nicht bis zum Wartesaal, um den Besucher durch die elektrische Tür zu bitten. Die Tür markiert für sie die Grenze zu den Störenfrieden. Sie brüllt einen Namen und watschelt in den Behandlungsraum. Wer gerade raucht oder Kaffee trinkt, darf sich wieder hinten anstellen. „Das ist eine Notaufnahme, kein Café“, sagt sie dann.
Hinter ihr humpelt eine Lehrerin Mitte 50, die sich an ihren Mann krallt. Sie sei auf der Treppe gestolpert und könne nicht mehr auftreten. „Geht das Auftreten gar nicht oder nicht gut“, fragt die Chirurgin. Sie drückt ein paar Mal in die Fußsohle und meint, sie solle bitte einmal die Ferse aufsetzen. „Klappt doch“, dröhnt sie, „nicht auftreten können, ist etwas anderes. Ich sage ihnen gleich, es ist weder etwas gebrochen noch gerissen, sonst wäre der Knöchel blau. Zur Sicherheit röntgen wir das, sie bekommen noch ein Verbändchen, dann ist gut. Krücken brauchen sie nicht.“

Nach 66 Sekunden komplimentiert sie das Ehepaar hinaus. Sie lässt sich auf den Hocker vor den Computer plumpsen und hackt in die Tasten. Auch eine Konsultationszeit von einer Minute bedarf einer Nachbearbeitung von zehn Minuten. „Das habe ich gleich gesehen, dass sie nichts hat“, murmelt sie.

Der Placebo-Effekt hat einen wenig bekannten, bösen Zwilling: das Nocebo-Phänomen. Es kann dafür sorgen, dass Patienten Nebenwirkungen verspüren, die gar nicht da sind.
von Katja Joho

So wie die Lehrerin handhaben es viele. Es fehlt an niedergelassenen Ärzten oder Ambulanzen des kassenärztlichen Notdienstes, meint Hoffmann. Gerade an den Wochenenden oder nach 17 Uhr. Statt Wochen auf einen Termin beim Facharzt oder in der Röntgenpraxis zu warten, fluten Patienten lieber die Kliniken. Die haben immer offen.

Um den Ansturm auf die Notaufnahmen zu begrenzen, fordert der Hartmannbund Nordrhein, ein regionaler Berufsverband der Ärzte in Deutschland, eine Gebühr von zehn Euro. Ein Vorschlag, von dem Marion Hoffmann wenig hält. „Das würde noch mehr Verwaltungsaufwand bedeuten. Gerade die, die es sich nicht leisten können, aber Hilfe brauchen, bleiben dann weg“. Sinnvoller wäre ein „Schleusenarzt“ im Umfeld der Notaufnahme. Ein Allgemeinmediziner, der die Patienten versorgt, die keine Notfälle sind.

Ein Vorschlag, den das Krankenhausstrukturgesetz, das 2016 in Kraft getreten ist, umsetzen will. Es verpflichtet nicht nur die Kassenärztlichen Vereinigungen, die die Interessen der niedergelassenen Ärzte in Deutschland vertreten, vertragsärztliche Notfallpraxen an die Krankenhäuser anzugliedern. Es soll die Kliniken auch finanziell entlasten. „Das löst aber noch nicht das Problem, dass Patienten Notaufnahmen überschwemmen“, sagt Beivers. Dafür brauche es mehr qualifiziertes Personal, etwa indem man einen Facharzt für Notfallmedizin einführe. Das würde die Arbeit der Feuerwehrleute in den Ambulanzen aufwerten und sicherstellen, dass kompetente Mediziner nachkämen.

Frau Hoffmann eilt zurück in den Ärztebereich. Wer mit ihr Schritt halten will, muss joggen. An ihren Schläfen kleben die Haare. Es ist 16.30 Uhr ihre Schicht neigt sich dem Ende zu. Inzwischen hat der gestresste Chirurg die demente Frau mit einem Verband an der Hand in einen Krankentransport nach Hause gesetzt. Marion Hoffmann rollt hinter den Computer, bereitet die Übergabe vor. Sie bittet eine Pflegerin, einer Angstpatientin Tee zu bringen, telefoniert mit der Psychiatrie, verabschiedet sich von einem Patienten mit Gallengangverschluss, für den sie endlich ein Bett organisiert hat.

Die Bilanz an diesem Tag: 58 Patienten, davon drei echte Notfälle.

Inhalt
Artikel auf einer Seite lesen
© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%