Mit Hilfe dieses Diagnosesystems, das viele europäische Länder nutzen, verknüpfen geschulte Pflegekräfte die Symptome der Patienten mit bestimmten Farben. Rot bedeutet, alle anderen Tätigkeiten müssen warten, der Patient braucht sofort Hilfe. Blau heißt, den Patienten kann man auch erst nach 120 Minuten versorgen. In der Realität warten Betroffene auch mal vier Stunden, weil Ärzte den Ansturm nicht bewältigen können.
Auf dem Tisch im Aufenthaltsraum liegt eine angebissene Spinatpizza, die niemand mehr essen wird. Sie ist kalt. Daneben steht eine Plastikbox mit Kirschgummibärchen. Eine junge Unfallchirurgin fischt nach den Früchtchen und stopft sich ein paar in den Mund. „Ich liebe diese Kirschen“ sagt sie. „Du kannst auch echte haben“, sagt Marion Hoffmann. „Dann könntet ihr mich intubieren, das wollt ihr nicht“. „Hin und wieder intubiere ich ganz gern“, scherzt Hoffmann.
„Nicht mich“, ruft die Chirurgin, die schon den nächsten Patienten ansteuert, während die Demente im Nebenzimmer wieder einmal stöhnt. Anders als Hoffmann geht die Chirurgin nicht bis zum Wartesaal, um den Besucher durch die elektrische Tür zu bitten. Die Tür markiert für sie die Grenze zu den Störenfrieden. Sie brüllt einen Namen und watschelt in den Behandlungsraum. Wer gerade raucht oder Kaffee trinkt, darf sich wieder hinten anstellen. „Das ist eine Notaufnahme, kein Café“, sagt sie dann.
Hinter ihr humpelt eine Lehrerin Mitte 50, die sich an ihren Mann krallt. Sie sei auf der Treppe gestolpert und könne nicht mehr auftreten. „Geht das Auftreten gar nicht oder nicht gut“, fragt die Chirurgin. Sie drückt ein paar Mal in die Fußsohle und meint, sie solle bitte einmal die Ferse aufsetzen. „Klappt doch“, dröhnt sie, „nicht auftreten können, ist etwas anderes. Ich sage ihnen gleich, es ist weder etwas gebrochen noch gerissen, sonst wäre der Knöchel blau. Zur Sicherheit röntgen wir das, sie bekommen noch ein Verbändchen, dann ist gut. Krücken brauchen sie nicht.“
Nach 66 Sekunden komplimentiert sie das Ehepaar hinaus. Sie lässt sich auf den Hocker vor den Computer plumpsen und hackt in die Tasten. Auch eine Konsultationszeit von einer Minute bedarf einer Nachbearbeitung von zehn Minuten. „Das habe ich gleich gesehen, dass sie nichts hat“, murmelt sie.
So wie die Lehrerin handhaben es viele. Es fehlt an niedergelassenen Ärzten oder Ambulanzen des kassenärztlichen Notdienstes, meint Hoffmann. Gerade an den Wochenenden oder nach 17 Uhr. Statt Wochen auf einen Termin beim Facharzt oder in der Röntgenpraxis zu warten, fluten Patienten lieber die Kliniken. Die haben immer offen.
Um den Ansturm auf die Notaufnahmen zu begrenzen, fordert der Hartmannbund Nordrhein, ein regionaler Berufsverband der Ärzte in Deutschland, eine Gebühr von zehn Euro. Ein Vorschlag, von dem Marion Hoffmann wenig hält. „Das würde noch mehr Verwaltungsaufwand bedeuten. Gerade die, die es sich nicht leisten können, aber Hilfe brauchen, bleiben dann weg“. Sinnvoller wäre ein „Schleusenarzt“ im Umfeld der Notaufnahme. Ein Allgemeinmediziner, der die Patienten versorgt, die keine Notfälle sind.
Ein Vorschlag, den das Krankenhausstrukturgesetz, das 2016 in Kraft getreten ist, umsetzen will. Es verpflichtet nicht nur die Kassenärztlichen Vereinigungen, die die Interessen der niedergelassenen Ärzte in Deutschland vertreten, vertragsärztliche Notfallpraxen an die Krankenhäuser anzugliedern. Es soll die Kliniken auch finanziell entlasten. „Das löst aber noch nicht das Problem, dass Patienten Notaufnahmen überschwemmen“, sagt Beivers. Dafür brauche es mehr qualifiziertes Personal, etwa indem man einen Facharzt für Notfallmedizin einführe. Das würde die Arbeit der Feuerwehrleute in den Ambulanzen aufwerten und sicherstellen, dass kompetente Mediziner nachkämen.
Frau Hoffmann eilt zurück in den Ärztebereich. Wer mit ihr Schritt halten will, muss joggen. An ihren Schläfen kleben die Haare. Es ist 16.30 Uhr ihre Schicht neigt sich dem Ende zu. Inzwischen hat der gestresste Chirurg die demente Frau mit einem Verband an der Hand in einen Krankentransport nach Hause gesetzt. Marion Hoffmann rollt hinter den Computer, bereitet die Übergabe vor. Sie bittet eine Pflegerin, einer Angstpatientin Tee zu bringen, telefoniert mit der Psychiatrie, verabschiedet sich von einem Patienten mit Gallengangverschluss, für den sie endlich ein Bett organisiert hat.
Die Bilanz an diesem Tag: 58 Patienten, davon drei echte Notfälle.