Brexit-Debatte Merkels Schweigegelübde

Sollte Großbritannien die EU verlassen, wäre das für Deutschland ein schwerer Schlag. Trotzdem bleibt Angela Merkel in der Brexit-Debatte ziemlich still. Ob das klug von der Kanzlerin ist, ist zweifelhaft.

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Angela Merkel tut auch bei der Brexit-Debatte das, was sie am besten kann. Ruhig bleiben, weitermachen und abwiegeln. Nicht bei allen kommt das gut an. Quelle: AFP

Berlin Was das Referendum über einen Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union angeht, verfolgt Deutschland gerade eine sehr britische Linie: „Keep calm and carry on.“ Zu deutsch: „Ruhig bleiben und weitermachen.“ Die alte Parole aus dem Zweiten Weltkrieg – in Souvenirläden gerade wieder sehr populär – könnte derzeit gut auch auf dem Kaffeebecher von Angela Merkel stehen.

Aus dem Wahlkampf für die Volksabstimmung am 23. Juni halten sich die Kanzlerin und ihre Regierung weitestmöglich heraus. Die Briten sprechen schon vom „self-imposed vow of silence“ der Deutschen, dem „selbst auferlegten Schweigegelübde“. Angeblich geht das allerdings auf eine persönliche Bitte des britischen Premiers David Cameron vom EU-Gipfel im Februar in Brüssel zurück.

Dahinter steht die berechtigte Sorge, dass alle noch so gut gemeinten Plädoyers für eine weitere EU-Mitgliedschaft der Briten genau das Gegenteil bewirken könnten: noch mehr Stimmen dagegen. Der Reflex, sich gegen jede Bevormundung aus Berlin sofort zur Wehr setzen, ist auf der Insel vermutlich so ausgeprägt wie nirgendwo sonst. Genauso wenig reden Merkel und ihre Minister über „Plan B“ – was bei einem Brexit-Beschluss in den Tagen danach passieren würde.

Als einziges prominentes Mitglied der Bundesregierung wagte sich in den vergangenen Monaten Wolfgang Schäuble nach London. Anfang März war der Finanzminister bei der Jahrestagung der britischen Handelskammer zu Gast. Seine Antwort auf die Frage nach der Reaktion Deutschlands auf einen Brexit: „Wir würden weinen.“ Damit kam er bei den Briten gut an.

Trotzdem verzichtete Merkel darauf, selbst nach London zu fahren. Genauso wie Vizekanzler Sigmar Gabriel oder Außenminister Frank-Walter Steinmeier. Niemand aus der Bundesregierung macht einen Hehl daraus, dass man die Briten unbedingt halten will. Aber allzu laut will das keiner sagen. Die Gefahr, dass einem die mehrheitlich EU-kritisch eingestellten britischen Blätter dann das Wort verdrehen, hält man für zu groß.

Als Merkel sich kürzlich – auf die Frage eines BBC-Journalisten nach einem anderen Termin im Kanzleramt – doch entsprechend äußerte, schob sie sofort hinterher: „Um jetzt kein Missverständnis auftreten zu lassen: Die Menschen in Großbritannien entscheiden.“ Von Angst- und Drohgebärden, wie sie inzwischen aus Brüssel kommen, hält man in Berlin nicht viel. Bislang gibt es auch keine Hinweise darauf, dass sich Merkel in den letzten Tagen doch noch einmischen könnte.


Die Folgen des Brexit

Dabei sind die Sorgen auch innerhalb der Bundesregierung aktuell ziemlich groß. Auf die Umfragen der britischen Meinungsforscher und die Quoten der Buchmacher wird jetzt jeden Tag genau geschaut. Möglicherweise würde niemand so sehr unter einem Brexit leiden wie die Deutschen. Denn allen heiligen Schwüren auf die deutsch-französische Freundschaft zum Trotz: Ohne London wäre es innerhalb der EU künftig ziemlich einsam am Verhandlungstisch.

Ob Steuern, Finanzen oder Subventionen, ob Freihandel, Kartellrecht oder Digitalisierung – die Gemeinsamkeiten mit den Briten sind so groß wie mit kaum jemandem sonst. Ihr Pragmatismus wird in Berlin hoch gelobt. Und bei allen Differenzen – an denen es nun wirklich nicht fehlt – nennt man sich untereinander immer noch gern „Brüder im Geiste“.

Wenn sich die Briten für einen Abschied entschieden, sähe Europa anders aus. Der Kontinent verlöre seine (neben Frankreich) stärkste Militärmacht samt Atomwaffenarsenal, seine zweitgrößte Volkswirtschaft, das Land mit der drittgrößten Bevölkerung, die Finanzhauptstadt der Welt und einen von zwei Plätzen im UN-Sicherheitsrat. Deutschland geriete – zu Recht oder nicht – noch mehr unter Verdacht, Europa beherrschen zu wollen.

Umso mehr käme es gleich am Tag danach auf die richtigen Worte an. Was würde Merkel wohl sagen? Vermutlich etwas wie: „Wir bedauern die Entscheidung der britischen Wähler, aber wir respektieren sie. Die Europäische Union ist jetzt ein Mitglied weniger – aber sie bleibt einig und stark.“

Aber wie sagt man das? Allein? Zu zweit, mit Frankreichs Präsident François Hollande? Mit den fünf anderen Gründungsmitgliedern? Oder nicht besser mit allen anderen, dann noch 27 Partnern? Und wo sagt man das? In Berlin? In Brüssel? In Paris? Nur ein paar von vielen Fragen, auf die es derzeit noch keine Antwort gibt. Nur die Devise für die nächste Zeit hätte man wohl schon: „Keep calm and carry on“. Very british

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