Corona an Schulen „Lockdown für Erwachsene, bevor die Schulen schließen“

Große Lernlücken sind bereits in den ersten beiden Lockdowns entstanden. Mit Aufholprogrammen, wie hier in Baden-Württemberg, sollen sie geschlossen werden – doch nun drohen neue Schulschließungen, tausende von Kinder sind bereits in Quarantäne.  Quelle: dpa

An vielen Schulen steigen die Infektionszahlen rasant – doch darauf sofort mit Schließungen oder der Aufhebung von Präsenzpflicht zu reagieren, findet Bildungsökonom Ludger Wößmann falsch. Lernrückstände seien nur schwer aufzuholen, gute Bildung werde zur Glücksfrage.

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Ludger Wößmann ist Leiter des ifo Zentrum für Bildungsökonomik und Professor für VWL an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität.

WirtschaftsWoche: Herr Wößmann, in Brandenburg wurde die Präsenzpflicht an Schulen aufgehoben, Eltern dürfen aufgrund der hohen Infektionszahlen nun selber entscheiden, ob sie ihre Kinder in den Unterricht schicken oder nicht. Ist das eine gute Idee?
Ludger Wößmann: Nein, denn die Politik will diese schwierige Entscheidung offensichtlich nicht selber treffen und lässt die Eltern damit allein. Das finde ich sehr problematisch. Ich fürchte, dass dieses Vorgehen Unsicherheit und Chaos auslösen wird.

Nach dem ersten und zweiten Lockdown hieß es, dass es keine Schulschließungen mehr geben darf – nun zeichnen sich wieder direkte und indirekte Schulschließungen, etwa durch Aufhebung der Präsenzpflicht oder vorgezogene Weihnachtsferien, ab.
Alle waren sich nach dem zweiten Lockdown einig, dass Schulschließungen um alles in der Welt vermieden werden müssen. Dass wir uns nun wieder in diese Richtung bewegen, kann doch wohl nicht der Ernst sein. Bevor wir wieder die Schulen schließen, muss es einen Lockdown für Erwachsene geben. Schulschließungen müssen das allerletzte Mittel sein.

Wurde für die Schülerinnen und Schüler zu wenig vorgesorgt?
Es ist mir schleierhaft, wie das passieren konnte. Offenbar ist die Politik bereit, die Coronamaßnahmen schon wieder auf die Mitglieder der Gesellschaft anzuwenden, die am schwächsten sind und sich am wenigsten beschweren. Dabei haben wir gesehen, wie sehr Kinder unter solchen Schulschließungen leiden, sozial und emotional, aber auch in Bezug auf die Lernrückstände, die für viele Jungen und Mädchen nur schwer aufzuholen sind.

Das sollte Bund und Ländern doch aber nach eineinhalb Jahren Pandemie inzwischen klar sein?
Offensichtlich nimmt die Politik noch immer nicht wahr, dass Schulschließungen Kindern nicht nur kurzfristig schaden, sondern bei dem Umfang, den wir inzwischen haben, auch mittel- und langfristig problematisch sind. Viele Kinder und Jugendliche werden in ihren Lernchancen eingeschränkt und damit auch in ihren Chancen auf dem Arbeitsmarkt und auf höhere Bildung. Die ohnehin schon bestehende Bildungsungleichheit wird dadurch nur noch weiter verschärft.

Sie haben sich in mehreren Studien mit den Auswirkungen des ersten und zweiten Lockdowns beschäftigt, demnach haben viele Kinder die Zeit eher vor der Mattscheibe als mit Mathe verbracht. Droht das auch, wenn die Präsenzpflicht aufgehoben wird?
Ja, zumal die Aufhebung der Präsenzpflicht für eine noch geringere Planbarkeit sorgt. Für wen sollen die Lehrkräfte denn nun Unterricht machen: für die Kinder zu Hause – oder für diejenigen, die in der Klasse sitzen? Eigentlich müsste es so sein, dass die Kinder zu Hause überall per Video-Konferenz in den Unterricht zugeschaltet werden. Das hätte auch mit Blick auf die tausenden Kinder, die nun in Quarantäne sind, vorbereitet werden müssen.

Das ist nicht passiert? 
Das haben anscheinend nur die wenigsten Länder und Schulen getan. So werden die Kinder zu Hause allein gelassen. Glück haben diejenigen, deren Eltern sich kümmern können – Pech haben diejenigen, deren Eltern arbeiten müssen oder die mit dem Stoff überfordert sind. Aber Bildung darf doch in Deutschland keine Glücksfrage sein.

Die Kinder aus dem Unterricht zu nehmen, können sich tatsächlich wohl nur die Eltern leisten, die im Homeoffice sind oder die nicht arbeiten. Wer alleinerziehend ist oder einen Präsenzberuf hat, der hat keine Wahl, vor allem, wenn die Kinder kleiner sind. Wäre eine Schulschließung für alle dann nicht gerechter?
Schulschließungen schaffen große Ungleichheit. Unsere Studien haben gezeigt, dass Kinder aus bildungsferneren Schichten zu Hause oft allein gelassen werden mit dem Stoff. Sie brauchen die Lehrkraft im Raum, die ihnen unterstützend zur Seite steht. Leistungsstarke Schülerinnen und Schüler können sich die Inhalte oft selbst beibringen, leistungsschwächere haben damit größere Probleme. Bezogen auf den sozioökonomischen Hintergrund hat die Pandemie schon zu viel größeren Ungerechtigkeiten geführt, als sie ohnehin schon bestehen. Das wird jetzt womöglich noch schlimmer werden.



Die Schulschließungen dürften allerdings nicht nur ein Thema für genervte Eltern sein, sondern auch für Industrie und Wirtschaft, die dadurch womöglich weniger gut ausgebildete Fachkräfte haben. Wundert es Sie, dass der Aufschrei dort nicht viel größer ist?
Ja, die Wirtschaft sollte sich deutlicher und lauter für das Offenhalten der Schulen einsetzen. Denn schon jetzt ist es so, dass viele Jugendliche, die auf den Ausbildungsmarkt kommen, nicht ausreichend qualifiziert sind. Gerade die Betriebe müssten doch einfordern, dass ein vernünftiger Aufbau der Kompetenzen stattfindet – das ist bei geschlossenen Schulen oft nicht der Fall.

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Gleichzeitig steigen aktuell die Infektionszahlen, unter den Schülerinnen und Schülern haben sie in vielen Regionen die 1000er-Inzidenz schon überschritten. Wie sollten die Kulturministerinnen und -minister darauf reagieren?
Wenn wir das Gefühl haben, dass die Pandemie aus dem Ruder läuft, dann müssen als erstes Lockdown-Maßnahmen folgen, bei denen die Erwachsenen zu Hause bleiben müssen. Es kann doch nicht sein, dass Erwachsene munter ins Stadion und ins Büro gehen können, während die Schülerinnen und Schüler wieder zu Hause sitzen. Konsequente Kontaktbeschränkungen unter Erwachsenen und keine Großveranstaltungen sollten die Wahl sein, Schulen sollten nur in den größten Notfällen geschlossen werden. Schülerinnen und Schüler müssen in diesem Coronawinter absolute Priorität haben. Das ist die Politik ihnen schuldig.

Mehr zum Thema: Kinder haben Priorität, hieß es nach dem ersten Lockdown. Doch auch fünfzehn Monate nach Pandemiebeginn kommt die Digitalisierung der Schulen kaum voran, wie etwa das Beispiel fehlender Tablets und Computer zeigt.

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