Schon vor dem aktuellen Energiepreis-Schock war jeder achte in einer Mietwohnung lebende Mensch mit den Wohnkosten überlastet. Im vergangenen Jahr mussten 12,8 Prozent der Mieter und Mieterinnen in Deutschland mehr als 40 Prozent ihres verfügbaren Einkommens für das Wohnen aufwenden, wie das Statistische Bundesamt am Freitag berichtete. Sozialverbände rechnen angesichts drastisch steigender Energiekosten einschließlich Gasumlage damit, dass Millionen Bürger in existenzielle Not geraten könnten und fordern deutliche staatliche Eingriffe.
„Das Problem ist, dass sich die Kosten für das Wohnen nicht einsparen lassen. Alle Menschen brauchen ein Dach über dem Kopf, müssen heizen, sich waschen und kochen“, sagt die Präsidentin des Sozialverbandes VdK, Verena Bentele. Dazu kommen die teureren Lebensmittel. Bentele verlangt einen Schutz vor Kündigungen für alle, die Miete oder Betriebskosten nicht auf einen Schlag zahlen könnten. „Niemand darf auf der Straße landen.“
Im Schnitt gaben die Menschen in Deutschland im vergangenen Jahr 23,3 Prozent ihres Einkommens fürs Wohnen aus, bei Mietern waren es 27,6 Prozent. Sie stellen etwas mehr als die Hälfte der deutschen Gesamtbevölkerung, ein europäischer Spitzenwert. Vor allem gering verdienende Mieterhaushalte leiden längst unter dem starken Kostendruck. Im unteren Einkommensfünftel lebte 2021 mehr als ein Drittel (36,2 Prozent) der Menschen in einem ständig finanziell überlasteten Haushalt, so die Statistik.
„Das Gemisch aus explodierenden Lebenshaltungskosten und übermäßigem Einkommensverzehr durch Mietbelastung ist ein echtes Armutsrisiko“ sagt Hauptgeschäftsführer Ulrich Schneider vom Paritätischen Gesamtverband. Auch er setzt sich für ein umfassendes Strom-, Energie- und Mietmoratorium ein. „Es braucht zudem dringend umfassende Hilfen für Menschen mit niedrigen Einkommen durch Anhebung und Ausweitung des Wohngeldes.“
Die Darmstädter Professorin Anne Lenze hat schon vor einigen Tagen anlässlich der Armutsstatistik gewarnt. „Das trifft diejenigen am stärksten, die ohnehin schon wenig haben.“ Menschen mit geringen Einkommen gäben bereits einen Großteil für Wohnen und Lebensmittel aus. Sparen oder sich einschränken, etwa bei Restaurantbesuchen oder Reisen, sei für sie gar nicht möglich. Da die Menschen auch meist in schlechter gedämmten Wohnungen lebten, würden sie von höheren Energiekosten voll erfasst. Energie- und Ernährungsarmut könne zur sozialen Frage dieses Jahrzehnts werden, sagt Armutsforscher Christoph Butterwegge.
2,4 Cent: Umlage trifft alle Gaskunden
2,419 Cent pro Kilowattstunde werden vom 1. Oktober an als Aufschlag auf den ohnehin drastisch gestiegenen Gaspreis fällig. Die Bundesregierung will keine Mehrwertsteuer darauf erheben: Finanzminister Christian Lindner hatte auf EU-Ebene um eine Ausnahme gebeten, diese wurde aber abgelehnt. Viele Menschen sind betroffen, denn etwa die Hälfte aller Wohnungen in Deutschland wird mit Gas beheizt.
Für einen Einpersonenhaushalt mit einem Jahresverbrauch von 5000 Kilowattstunden bedeutet die Umlage ohne Mehrwertsteuer jährliche Zusatzkosten von rund 121 Euro. Mit wären es rund 144 Euro. Für einen Familienhaushalt mit einem Jahresverbrauch von 20 000 Kilowattstunden liegen die Mehrkosten bei rund 484 Euro im Jahr. Kommt die Mehrwertsteuer hinzu, sind es 576 Euro.
Die Umlage gilt ab Anfang Oktober. Sie werde aber nicht unmittelbar auf den Rechnungen sichtbar, sondern mit etwas Zeitverzug, so das Wirtschaftsministerium. Ankündigungsfristen von vier bis sechs Wochen müssten eingehalten werden. Daher werde die Umlage wahrscheinlich erst im November oder Dezember erstmals auf den Rechnungen ausgewiesen. Der Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft rechnet allerdings damit, dass einige Versorger die Umlage schon ab dem 1. Oktober ihren Kunden in Rechnung stellen werden.
Die Umlage endet am 1. April 2024. Sie wird laut Wirtschaftsministerium monatlich abgerechnet und kann alle drei Monate angepasst werden. Die Ausgleichszahlungen bekommen die Importeure nur unter bestimmten Bedingungen. Abgerechnet werden können 90 Prozent der Mehrkosten. Noch bis Ende September müssen die Unternehmen alle Mehrkosten selbst tragen. Sollte Russland gar kein Gas mehr liefern, hält Habeck es für wahrscheinlich, dass die Umlage steigt.
Den Firmen, die in der Vergangenheit günstiges russisches Erdgas nach Deutschland importiert haben. Sie bekommen noch einen Bruchteil der vertraglich zugesicherten Liefermengen. Gleichzeitig haben sie ihren Abnehmern wie Stadtwerken genau dieses Gas versprochen. Um die Versorgung aufrechtzuerhalten, müssen sie kurzfristig Gas an der Börse teuer hinzukaufen. Die Folge: Bei den Importeuren sind erhebliche Verluste entstanden. Der Fortbestand der Unternehmen kann gefährdet sein. Beim größten Gasimporteur Uniper war die Lage so dramatisch, dass noch vor Einführung der Umlage ein milliardenschweres Rettungspaket nötig wurde. Habeck bezeichnete die Umlage als eine „bittere Medizin“. Die Alternative zu den Hilfsmaßnahmen wäre ein Zusammenbruch des deutschen Energiemarktes gewesen.
Russland macht technische Gründe dafür verantwortlich. Die Bundesregierung hält dies für vorgeschoben. Habeck sprach am Montag von einer „von russischer Seite verursachten künstlichen Energieknappheit“ im Zusammenhang mit dem Angriffskrieg gegen die Ukraine.
Bundeskanzler Olaf Scholz sicherte den Bürgern erneut ein weiteres Entlastungspaket zu. „Wir lassen niemanden allein mit den höheren Kosten“, schrieb der SPD-Politiker auf Twitter und räumte gleichzeitig ein: „Es wird teurer – da gibt es kein drumherumreden. Die Energiepreise steigen weiter.“ Bisher seien schon staatliche Hilfen über 30 Milliarden Euro beschlossen worden. Habeck sagte, die Bundesregierung habe sich schon auf erste Schritte wie eine Ausweitung des Wohngeldes mit einem Heizkostenzuschuss verständigt. „Ich meine aber, dass weitere zielgenaue Entlastungen nötig sind. In dieser Krise müssen wir den demokratischen Konsens sozialpolitisch absichern.“
Zwölf Gasimporteure haben ihre Ersatzbeschaffungskosten angemeldet. Darunter sind Uniper, VNG und EWE. RWE und Shell wollen auf eine Kostenerstattung verzichten. Insgesamt haben die zwölf Unternehmen bis Anfang April 2024 zunächst rund 34 Milliarden Euro geltend gemacht, teilweise aufgrund von Schätzungen. Wirtschaftsprüfer und die Bundesnetzagentur sollen darauf achten, dass alles mit rechten Dingen zugeht.
Das ist noch nicht ganz klar und wird geprüft. Gegebenenfalls wird es noch Gesetzesänderungen geben. Habeck wies darauf hin, dass es auch viele Festverträge mit einer Preisanpassungsmöglichkeit für staatliche Abgaben gibt.
Neben der Beschaffungsumlage kommt im Herbst noch eine Gasspeicherumlage. Diese soll die Kosten ersetzen, die für die Extra-Einspeicherung von Erdgas zur Sicherstellung der Versorgungssicherheit im Winter entstehen. Das Wirtschaftsministerium geht aber nicht davon aus, dass diese Umlage eine „relevante Größe“ erreichen wird.
Die Gasumlage wird nach Ansicht von Ökonomen zu einer Steigerung der Inflationsrate führen. So hält das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung eine Inflationsrate im vierten Quartal um die zehn Prozent für möglich. Experten der Commerzbank gehen von einer Steigerung der Teuerung bis Jahresende auf deutlich über neun Prozent aus.
Die ganz großen Preissprünge kommen erst 2023 mit den nachlaufenden Nebenkostenabrechnungen, mahnt Mieterbund-Präsident Lukas Siebenkotten. Er rechnet mit einem zusätzlichen Druck auf die Kaltmieten, weil der Wohnungsneubau förmlich einbreche. „Die Strategie der Ampel-Regierung, durch Neubau endlich den Druck vom Wohnungsmarkt zu nehmen, geht zumindest zur Zeit nicht auf.“ Es brauche einen bundesweiten Mietenstopp, die Ahndung von Mietwucher und die Einführung einer neuen Wohngemeinnützigkeit.
Zudem müssten Bund und andere öffentliche Träger verstärkt frühere Sozialwohnungen aufkaufen, verlangt der Mieterbund. Die zugesagten Bundesmittel von 14,5 Milliarden Euro bis 2025 reichen nach Einschätzung der IG BAU längst nicht aus, um tatsächlich jedes Jahr 100 000 geförderte Neubauwohnungen fertigzustellen. Die Gewerkschaft will daher zusätzliche Investitionszulagen und Steuererleichterungen für dauerhaft preisgebundene Wohnungen. Zudem müssten im Bestand neue Wohnungen geschaffen werden. Allein der Umbau nicht mehr benötigter Büros könne 1,9 Millionen neue Wohnungen bringen, sagt IG-BAU-Chef Robert Feiger.
Zusätzlich verschärft wird die Lage durch die ökologisch dringend notwendige Modernisierung des Gebäudebestands. Die Kosten könnten nicht allein auf die Mieter abgewälzt werden, sagen Gewerkschaft und Mieterbund. Sie schlagen ein Drittel-Modell vor, bei dem sich Eigentümer, öffentliche Hand und Mieter die Sanierungskosten teilen. Das sieht grundsätzlich der Eigentümerverband Haus und Grund auch so: „Das ist eine gemeinsame Aufgabe von Eigentümern, Mietern und dem Staat. Ohne eine spürbare staatliche Förderung wird es nicht gehen, aber - bei vermieteten Gebäuden - eben auch nicht ohne Beteiligung der Mieter.“
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