Gesundheitsreport Fluch und Segen der Digitalisierung

Mehr als jeder Fünfte fühlt sich durch die Digitalisierung überlastet. Quelle: dpa

Mehr als jeder Fünfte fühlt sich ausgebrannt. Ein Grund dafür ist die Anforderung, jederzeit für den Arbeitgeber verfügbar zu sein. Die meisten sehen aber keine negativen Folgen für ihre Gesundheit.

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Im vergangenen Jahr ist der Krankenstand leicht gestiegen. Pro Beschäftigten fielen 17,4 Arbeitstage wegen Krankheit aus, was einem Krankenstand von 4,8 Prozent entspricht. Weiter auf dem Vormarsch sind vor allem psychische Erkrankungen. Während vor zehn Jahren noch zehn Prozent aller Krankschreibungen als Ursache eine psychische Erkrankung hatten, waren es im vergangenen Jahr 16 Prozent. Eine Ursache könnte die wachsende Digitalisierung der Wirtschaft sein, so Franz Knieps, Chef des Bundesverbands der Betriebskrankenkassen am Dienstag.

Der Verband hat im Rahmen seiner jährlichen Gesundheitsberichterstattung untersuchen lassen, was die Digitalisierung mit den Arbeitsbedingungen der Beschäftigten macht und wer überhaupt schon betroffen ist. Für jeden Zweiten (52 Prozent) ist demnach die Digitalisierung schon heute fester Bestandteil der Arbeit. Weitere 38,5 Prozent nutzen die digitalen Hilfsmittel zumindest zeitweise. Die meisten kommen gut klar damit. Sie sehen sich dadurch weder entlastet noch großartig stärker belastet als früher. Über 40 Prozent rühmen, dass sie nun Aufgaben schneller erledigen und leichter an mehreren Aufträgen gleichzeitig arbeiten können. Jeder zehnte sagt, er fühle sich eher weniger belastet.

Doch gab bei einer repräsentativen Umfrage unter 3000 Beschäftigten auch mehr als jeder Fünfte an, sich durch die Digitalisierung überlastet und ausgebrannt zu fühlen.

Das könnte, so Jan Dettmers von der Medical School Hamburg vor allem damit zu tun haben, dass die Digitalisierung in vielen Berufen zu einer Vermischung von Job und Freizeit geführt hat. Ein Drittel der Männer und ein Viertel der Frauen gaben bei der Umfrage an, dass sie auch in der Freizeit Arbeit erledigen. Doch das ist nicht einmal erforderlich. Untersuchungen belegen, so Dettmers: „Auch ohne einen konkreten Arbeitseinsatz, also Mehrarbeit im engeren Sinne, kommt es zu Beeinträchtigungen für das Wohlbefinden.“ Die bloße Anforderung, verfügbar zu sein, könne krank machen. Es entstehe so etwas wie eine dauerhafte Aktivierung.

Der Beschäftigte rechnet ständig damit, dass er irgendetwas gefragt wird, zu einer Stellungnahme aufgefordert wird oder zur Disposition von Terminen. Er kann nie richtig abschalten. Und das kann „verminderte Stimmung, emotionale Erschöpfung, Rücken- und Nackenschmerzen sowie Schlafstörungen auslösen“. Als Stress kann auch empfunden werden, dass die ständige Erreichbarkeit den Arbeitnehmern das Gefühl gibt, sie könnten ihre Freizeit nicht mehr selbstbestimmt gestalten. Die Folge können, so Dettmers, Rollenkonflikte sein. Berufliche Anforderungen kollidieren zum Beispiel mit familiären. Am Ende hängt der Haussegen schief.

Die Lösung des Problems kann nach Ansicht Dettmers aber auch nicht darin liegen, arbeitsbezogene Kommunikation außerhalb der Arbeitszeit einfach zu unterbinden, wie dies beispielsweise Volkswagen getan hat. Denn dadurch würden auch positive Potenziale dieser Seite der Digitalisierung verschenkt. So erleben es ein Drittel der Männer und mehr als jede vierte Frau als positiv, dass sie Arbeiten auch außerhalb der regulären Arbeitszeit erledigen können. Mehr als jeder Vierte gibt an, Arbeit, Familie und Freizeit besser vereinbaren zu können. Schließlich kann die größere Verfügbarkeit auch dazu führen, dass Arbeitseinsätze besser koordiniert werden, es also zu einer für das Unternehmen effizienteren und für die Beteiligten befriedigenderen Zusammenarbeit kommt.

Letztlich gehe es darum, die richtige Balance zu finden. Der Bundesverband der Betriebskrankenkassen testet bereits seit Februar in einem gemeinsamen Projekt mit der Verwaltungsberufsgenossenschaft, wie so etwas funktionieren kann. In einem ersten Schritt wird an Hand von Fragebögen bei Beschäftigten und Vorgesetzten ermittelt, welche Anforderungen an Verfügbarkeit die letzteren haben und die Arbeitnehmer subjektiv wahrnehmen. Dabei zeigt sich schon häufig, dass die Beschäftigten Anforderungen empfinden, die der Vorgesetzte gar nicht hat.


Individuelle Strategien gegen die Überforderung


Dann wird in einem zweiten Schritt untersucht, wann erweiterte Verfügbarkeit aus betriebliche Gründen überhaupt erforderlich ist. Zusätzlich könnten die Unternehmen den Beschäftigten helfen, individuelle Strategien zu entwickeln, mit denen sie sich selbst vor Überforderung schützen können. Eine Anti-Stressverordnung, wie sie die IG Metall im vergangenen Jahr als Antwort auf neue Stressfaktoren im Arbeitsleben gefordert hat, verlangen die Betriebskrankenkasse nicht. Sie setzen stattdessen auf betriebliches Gesundheitsmanagement.

Digitalisierung ist Fluch und Segen. Das gilt laut BKK-Report aber auch für die Digitalisierung im Gesundheitswesen selbst. Über die Hälfte der Bürger finden es gut, wenn sie Meldungen an ihre Krankenkasse online statt persönlich oder brieflich übermitteln können. Etwas mehr als ein Drittel würden auch Online-Plattformen für die Suche nach Ärzten, Krankenhäusern oder Pflegeinrichtungen nutzen. 40 Prozent sind bereit, eine von ihnen selbst verwaltete elektronische Gesundheitsakte zu nutzen, fast 30 Prozent können sich auch noch vorstellen, mit Arzt oder Therapeut online zu kommunizieren. Doch nur jeder Fünfte kann sich eine Erstdiagnose per App oder Video-Sprechstunde mit einem Arzt vorstellen.

Noch weniger wären mit einer Fernbehandlung einverstanden (18 Prozent). Allerdings wächst die Bereitschaft je kränker ein Patient ist. So ist die Bereitschaft, an Online-Behandlungen teilzunehmen, bei Menschen mit mehr als vier Erkrankungen doppelt so hoch wie bei Menschen mit nur einer Krankheit. Entscheidend ist der Datenschutz. 80 Prozent fordern selbst entscheiden zu dürfen, wer auf ihre Daten zugreifen darf.

Gerade in strukturschwachen Gebieten könnte die Digitalisierung aber unabhängig von solchen persönlichen Präferenzen ein Weg sein, Gesundheitsversorgung sicher zu stellen. Doch hier müssten noch gesetzliche Barrieren beseitigt werden. Ein weites Feld seien schließlich Gesundheits-Apps etwa zur Gewichtsabnahme, zur Ernährung oder zu sportlicher Betätigung. Auch hier sei das Hauptproblem der Schutz individueller Gesundheits-Daten, so Sabrina Zeike von der Universität Köln und Holger Paff, Chef des Expertenbeirates des Innovationsfonds, über den seit 2016 besonders innovative Versorgungsprojekte gefördert werden. So könnten die Krankenkassen Gesundheitsdaten nutzen, um ihre Versicherten zu beraten und ihnen gezielt Präventions- und Behandlungsangebote zu machen.

Doch dagegen steht heute oft noch der Datenschutz. Schließlich könnten die Krankenkassen solche Daten auch zum Schaden der Versicherten nutzen, etwa um kranke Versicherte mit einem hohen Behandlungsbedarf mehr oder weniger dezent zum Wechsel der Krankenkasse zu animieren.

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