Der langjährige Bundesaußenminister und Ehrenvorsitzende der FDP, Hans-Dietrich Genscher, ist tot. Nach Angaben seines Büros vom Freitag starb er am späten Donnerstag im Alter von 89 Jahren im Kreise seiner Familie an Herz-Kreislaufversagen. Parteiübergreifend wurde Genscher als Politiker gewürdigt, der Geschichte geschrieben habe. Genscher war an wichtigen Weichenstellungen der Nachkriegsgeschichte beteiligt: Als Parteichef steuerte er die FDP 1982 von der sozial-liberalen Koalition unter Helmut Schmidt in das langjährige Regierungsbündnis mit der CDU/CSU unter Helmut Kohl. Lange Jahre war er der beliebteste deutsche Politiker - nicht zuletzt wegen seiner Rolle zur Zeit der Wiedervereinigung vor 25 Jahren.
"Genscher hat Geschichte geschrieben und unser Land geprägt. Wir haben ihm viel zu verdanken. Unsere Trauer kann nicht größer sein", schrieb FDP-Chef Christian Lindner. Erst vor zwei Wochen war Genschers politischer Ziehsohn, der ehemalige Außenminister und langjährige FDP-Vorsitzende Guido Westerwelle, gestorben.
"Mit seiner Verlässlichkeit und seinem diplomatischen Geschick hat Hans-Dietrich Genscher unserem Land in der Welt ein Gesicht gegeben und das Vertrauen bei unseren Partnern gestärkt", erklärte Bundespräsident Joachim Gauck. Kanzlerin Angela Merkel bezeichnete Genscher als "weltweit geachteten Staatsmann" und von ihr persönlich hoch geschätzten Ratgeber: "Ich verneige mich in Hochachtung vor der Lebensleistung dieses großen liberalen Patrioten und Europäers", so die CDU-Chefin.
Stationen in Genschers politischer Karriere
Als dienstältester Außenminister prägte FDP-Chef Hans-Dietrich Genscher die deutsche und europäische Nachkriegspolitik entscheidend mit. Dank seines geschickten Taktierens wurde „Genscherismus“ zum feststehenden Begriff für die Kunst, sich nicht festzulegen. Die wichtigsten Stationen:
Hans-Dietrich Genscher wird in Reideburg/Saalkreis geboren. Nach Kriegsdienst und Ergänzungsabitur nimmt Genscher 1949 sein Jura-Studium auf.
Eintritt in die FDP
Nach der Bundestagswahl ist Genscher maßgeblich an der Bildung einer sozialliberalen Koalition beteiligt und wird im Oktober als Innenminister in das Kabinett von Willy Brandt (SPD) berufen.
Bei der Geiselnahme jüdischer Sportler während der Olympischen Spiele in München bietet sich Genscher als Austauschgeisel an, das wird aber von den palästinensischen Terroristen abgelehnt. Den tödlichen Ausgang des Dramas sieht Genscher als persönliche Niederlage und bietet seine Rücktritt an.
Während der Spionage-Affäre um Günter Guillaume gerät auch Genscher als oberster Dienstherr des Verfassungsschutzes unter Druck. Nach dem Rücktritt Brandts übernimmt er den Posten des Außenministers und Vizekanzlers unter Helmut Schmidt (SPD). Genscher löst zudem Walter Scheel als Vorsitzenden der FDP ab.
Austritt der FDP-Mitglieder aus dem Kabinett Schmidt. Genscher unterstützt, gegen den linksliberalen Flügel seiner Partei, Koalitionsverhandlungen mit der CDU/CSU und setzt sich für das konstruktive Misstrauensvotum gegen Schmidt ein.
Nach der Wahl von Helmut Kohl (CDU) zum Bundeskanzler behält Genscher seine bisherigen Ämter. Zu seinen Zielen zählen die Weiterführung der Entspannungspolitik und des Ost-West-Dialogs mit der sich wandelnden UdSSR sowie das Zusammenwachsen Europas.
Wegen Kritik an seinem Führungsstil gibt Genscher sein Amt als FDP-Parteivorsitzender an Martin Bangemann ab.
Auf dem Balkon der bundesdeutschen Botschaft in Prag sagt Genscher: „Wir sind gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Nacht ihre Ausreise...“. Das Satzende geht im Jubel Tausender DDR-Flüchtlinge auf dem Botschaftsgelände unter. Später sieht Genscher diesen Moment als Höhepunkt seiner politischen Tätigkeit.
Historisches Treffen von Kanzler Kohl und dem sowjetischen Staatspräsidenten Michail Gorbatschow im Kaukasus. Im Beisein von Genscher gelingt der Durchbruch auf dem Weg zur deutschen Einheit.
Deutschland ist Ende Dezember das erste EG-Land, das Slowenien und Kroatien - wo man Genscher als Volkshelden und „Geburtshelfer“ der Souveränität feiert - anerkennt. Kritiker werfen der Bundesrepublik vor, den Balkankonflikt damit angeheizt und das Ende Jugoslawiens besiegelt zu haben.
Der Vizekanzler und dienstälteste Außenminister tritt auf eigenen Wunsch von seinen Ämtern zurück und wird zum Ehrenvorsitzenden der FDP ernannt.
Genscher scheidet nach 33 Jahren aus dem Bundestag aus.
Bundesaußenminister Frank-Walter-Steinmeier (SPD) erklärte, Genscher sei es vergönnt gewesen, die Wiedervereinigung selber zu verwirklichen und auch die Vollendung der deutschen Einheit noch zu Lebzeiten begleiten zu können. Alt-Kanzler Gerhard Schröder (SPD) würdigte ihn als bedeutenden Diplomaten, der "Deutschlands Rolle in der Welt geformt und gefestigt" habe.
Der 1927 in Reideburg im Saalkreis geborene Jurist war von 1974 bis 1992 Außenminister. Zuvor hatte er dem Bundeskabinett bereits seit 1969 als Innenminister angehört. In seine Amtszeit im Innenressort fiel unter anderem die Geiselnahme israelischer Olympiateilnehmer in München durch palästinensische Extremisten. Bei der gescheiterten Befreiungsaktion starben elf Geiseln. 1974 löste Genscher Walter Scheel als FDP-Chef ab und behielt das Amt bis 1985. Sich selbst bezeichnete er stets als "Mann der Mitte". Genschers Markenzeichen war ein gelber Pullunder.
An der Seite Kohls stellte Genscher im Herbst 1989 die außenpolitischen Weichen für die Wiedervereinigung Deutschlands. Verbunden wird mit ihm ist vor allem eine Szene, die nur von einer Fernsehkamera festgehalten wurde: Am Abend des 30. September 1989 sprach er vom Balkon der deutschen Botschaft in Prag seine wohl meistzitierten Worte: "Wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise..." - der Rest ging im Jubel der ausharrenden DDR-Flüchtlinge unter. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker sagte, damals sei er für viele in Osteuropa zu einem "Symbol der Hoffnung" geworden.
Nach dem Fall der Berliner Mauer arbeitete Genscher daran, die Vorbehalte der früheren Alliierten gegen ein vereintes Deutschland abzubauen. Schwierig war vor allem die Debatte über eine weitere Nato-Mitgliedschaft oder eine Neutralität Deutschlands. In den "2+4"-Gesprächen im Verlaufe des Jahres 1990 gaben die Alliierten schließlich ihre Sonderrechte auf, im Juli des Jahres kam es zum berühmten Kaukasus-Treffen Kohls mit dem sowjetischen Staatsführer Michael Gorbatschow, in dem die Vorbehalte der UdSSR gegen die Nato-Mitgliedschaft Deutschlands fallengelassen wurden. Den Austausch der Ratifikationsurkunden für den 2+4-Vertrag im März 1991 in Moskau bezeichnete Genscher später als das "am tiefsten bewegende Ereignis" seiner Amtszeit.
Der Ausgleich zwischen Ost und West war schon in den Jahren vor dem Zusammenbruch der kommunistischen Regierungen Osteuropas ein zentrales Anliegen Genschers. So war er einer der zentralen Antreiber der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) und die Abrüstungsinitiativen der 80er-Jahre. Genscher war einer der reisefreudigsten Minister Deutschlands. Alleine zwischen 1983 und 1988 zählte man 245 Dienstreisen. Damals erzählte man sich in der Bundeshauptstadt Bonn den Witz: "Treffen sich zwei Flugzeuge. In beiden sitzt Genscher."