Kaum altersgerechte Wohnungen Die verpasste Entlastung

Die Gesellschaft altert, aber in Deutschland fehlen altersgerechte Wohnungen. Dabei würde das nicht nur die betroffenen Senioren entlasten. Die Pflegekassen könnten Milliarden Euro pro Jahr einsparen.

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Die meisten Wohnungen in Deutschland sind für ältere Menschen und Rollstuhlfahrer nicht geeignet. Quelle: dpa

Berlin Im Q3A steckt einiges an Potenzial. Dieser 40 bis 90 Meter lange viergeschossige Plattenbautyp der früheren DDR soll aufgestockt werden, um in der Hauptstadt dringend benötigten Wohnraum zu schaffen. Für Bundesbauministerin Barbara Hendricks (SPD) eine feine Sache: „Wir brauchen keine zusätzliche Versiegelung, es muss kein teures Grundstück erworben werden und selbst die bisherigen Mieter profitieren, weil sie künftig einen Aufzug haben werden.“

Hendricks´ Freude hat einen triftigen Grund: fehlende Aufzüge, fehlende barrierefreie, zumindest barrierearme Wohnungen, sind ein bislang wenig beachtetes, aber zunehmendes Problem in Deutschland. „Der demografische Wandel stellt uns vor gewaltige Herausforderungen: Bis 2030 wird sich die Zahl der über 80-Jährigen verdoppeln und die Zahl der über 100-Jährigen verdreifachen“, sagt Hendricks´ Staatssekretär Gunther Adler. „Damit ältere Menschen so lange wie möglich selbstbestimmt in ihrer vertrauten Umgebung leben können, müssen wir das Angebot an altersgerechten Wohnungen dringend erweitern.“

Auch das Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR), ein Forschungsinstitut des Bundesbauministeriums, schlägt Alarm. „Schon heute besteht bei altersgerechten Wohnungen eine geschätzte Lücke von bis zu zwei Millionen Wohnungen“, sagt BBSR-Direktor Harald Herrmann. Berechnungen der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) gehen von einem Bestand von etwa 700.000 altersgerechten Wohnungseinheiten aus. Das sind weniger als zwei Prozent des gesamten Wohnungsbestandes in Deutschland. Damit nicht genug: „Bis 2030 sind zusätzlich etwa 2,9 Millionen altersgerechte Wohnungen mit einem geschätzten Investitionsbedarf von bis zu 50 Milliarden Euro erforderlich“, vermutet Herrmann.

Von dieser Zahl geht auch Adler aus: „Bis 2030 brauchen wir rund drei Millionen altersgerechte Wohnungen in Deutschland“, bestätigt er dem Handelsblatt. In Neubauprojekten sind barrierearme Wohnungen zunehmend Standard. Im Wohnungsbestand, in den vielen Mietskasernen der Nachkriegsjahre, in denen viele ältere Menschen leben und bis heute ohne Fahrstuhl auskommen müssen, tut sich jedoch wenig.

Für Axel Hölzer, den ehemaligen Vorstandschef der Marseille-Kliniken, ist das möglichst lange  Verbleiben der Generation 65 plus in den eigenen vier Wänden alternativlos. „Schon  fast ein Viertel der Gesamtbevölkerung ist heute älter als 65 Jahre. Und jeder Siebte ist bereits pflegebedürftig. Das sind 2,5 Millionen Menschen“, sagt Hölzer. Bis 2030 werden rund 30 Prozent über 65 sein und 3,5 Millionen pflegebedürftig. Bislang lebe nur ein Drittel der Pflegebedürftigen in  Heimen. Zwei Drittel  lebten in normalen Wohnungen oder Häusern und würden dort von Angehörigen oder Pflegediensten betreut.  Er sei dafür, dass das mindestens so bleibe. Und es entspricht auch den Präferenzen der  Betroffenen. Nach einer repräsentativen Umfrage aus dem vergangenen Jahr sind nur 30 Prozent der befragten 65- bis 79-Jährigen bereit umzuziehen. Mit dem Alter nimmt die Abneigung gegen einen Ortswechsel sogar noch zu: nur 15 Prozent der über 80-Jährigen waren bei der Umfrage dazu bereit.

Würde der zu erwartende Zuwachs am Pflegebedürftigen vornehmlich durch  Pflegeheime  aufgefangen, müssten bis 2030 etwa 620.000 neue Pflegeheimplätze gebaut werden, rechnet Hölzer vor. Die geschätzten Baukosten dafür beliefen sich auf 54 Milliarden Euro. Das sei von der deutschen Pflegewirtschaft schlicht nicht zu stemmen, meint  Hölzer. Er  sieht besonders die großen Gesellschaften gefordert. „Ein Viertel der deutschen Senioren ist Mieter eines großen Wohnungsbauunternehmens. Damit leben statistisch schon heute über 620.000 Pflegebedürftige in den Wohnungen dieser großen Gesellschaften.“ Zum  Vergleich: In Pflegeheimen werden derzeit 740.000 Pflegebedürftige betreut.


Volkswirtschaftlicher Nutzen

„Volkswirtschaftlich ist es auf jeden Fall sinnvoll, wenn die Menschen länger in ihren eigenen vier Wänden wohnen bleiben können“, sagt Adler. Schließlich ergeben sich auch Einsparpotenziale. Wenn durch Umbaumaßnahmen bei nur 15 Prozent der pflegebedürftig werdenden Personen ein Umzug ins Heim vermieden oder aufgeschoben werden könne, seien jährliche Entlastungen für die Sozial- und Pflegekassen um etwa drei Milliarden Euro denkbar. Das hatte bereits eine BBSR-Studie von 2014 gezeigt. Passiert ist seitdem nicht viel, vor allem nicht im Bestand, in den Mietskasernen der Nachkriegsjahre, in denen viele ältere Menschen leben und bis heute ohne Fahrstuhl auskommen müssen.

Zeit zum Handeln. „Ich sehe auch über die 2017 in Kraft  tretende zweite Stufe der Pflegereform hinaus Handlungsbedarf“, sagte der Pflegebeauftragte der Bundesregierung, Karl Josef Laumann, dem Handelsblatt. "Wir brauchen mehr barrierefreien Wohnraum.“ Das allein werde aber nicht reichen. „Wir brauchen dazu vor allem in von der Alterung der Einwohnerschaft besonders betroffenen Regionen auch ein wohnortnahes Angebot ambulanter Pflegedienste oder von Einrichtungen der Tagespflege.“

Vor allem die Kommunen seien gefordert. „Sie haben es in der Hand, etwa bei der Bauleitplanung zu entscheiden, wie die verschiedenen Angebote in der Pflege sinnvoll angesiedelt und vernetzt werden können“, sagte Laumann. Hier sei Steuerung nötig. Er begrüßte es ausdrücklich, dass eine Reihe von Wohnungsunternehmen immer mehr dazu übergehen, ihre Wohnungsbestände barrierefrei oder barrierearm umzubauen. Die Pflegeversicherung tue das ihre dazu, indem die Leistungssätze für die Tagespflege deutlich erhöht worden seien. Auch das könne den Umzug ins Heim hinauszögern.

Aber der Umbau geht nur langsam voran. In den vergangenen acht Jahren, sagt Hendricks´ Staatssekretär Adler, seien insgesamt über 260.000 Wohnungen mit Bundesmitteln und KfW-Mitteln umgebaut worden. „Das reicht jedoch bei weitem nicht aus.“ Zum 1. Oktober 2014 sei darum die Zuschussförderung des KfW-Programms ‚Altersgerecht Umbauen‘ wieder eingeführt worden, ein „erster Schritt, den notwendigen Umbau zu beschleunigen, aber es werden weitere folgen müssen“. Vor allem, weil die Mittel aufgrund der hohen Nachfrage bereits Ende Juli 2016 ausgeschöpft war – und das Programm ohne weitere Verlängerung Ende des Jahres ausläuft. Das Ministerium will das verhindern und strebt eine Verlängerung des  KfW-Zuschussprogramms an. Ob dafür aber Gelder bereitstehen werden, ist zumindest bislang aus den Haushaltsplanungen nicht ersichtlich.

Und alleine werden diese Mittel nicht reichen. Neben den Wohnungsbaugesellschaften kommen hier abermals die Kommunen mit ins Spiel. Die kommunale Infrastruktur – also Straßen, Verkehr, öffentliche Gebäude und Dienstleistungen – müsse Teil eines umfassenden Demografiekonzepts sein, fordert der Bundesverband deutscher Wohnungs- und Immobilienunternehmen (GdW). Auch im Bestand des GdW erhöht sich die Zahl barrierearmer Wohnungen nur langsam, derzeit sind es sechs Prozent. In den Wohnungen erforderlich ist neben Schwellenreduzierungen und Badumbauten zunehmend technische Unterstützung, um den Alltag bewältigen zu können.

Studien zufolge beträgt allein der Mehraufwand, um einen altersgerechten Wohnstandard für mobilitätseingeschränkte ältere Menschen zu erreichen, durchschnittlich 7.200 Euro pro Wohnung, dazu kommen Kosten beispielsweise für Aufzüge. Ob ältere Menschen diese Kosten trotz der Zuschüsse stemmen können, ist fraglich. Und auch im Mietwohnungssektor kann der Umbau von  Wohnungen zu Miethöhen führen, die von einkommensschwächeren älteren Mietern kaum noch zu tragen sind, vor allem in angespannten Wohnungsmärkten.

Da hilft es schon, dass seit einigen Jahren auch die Pflegeversicherung finanzielle Unterstützung leistet, wenn es um den altengerechten Umbau von Wohnungen geht. Zum 1. Januar dieses Jahres wurden mit dem Pflegestärkungsgesetz die Zuschüsse von maximal 2.557 auf 4.000 Euro pro Maßnahme erhöht. Für eine Wohngemeinschaft gibt es pro  Fall sogar 16.000 Euro. Sie können etwa für Umbaumaßnahmen wie Rollstuhlrampen, begehbare Duschen oder die Verbreiterung von Türen eingesetzt werden. Allerdings werden die Hilfen bislang nur verhalten genutzt. 2013 wurden 140 Millionen Euro ausgezahlt. 2014 waren es 156 Millionen und 2015 immerhin 760 Millionen Euro.

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