Mathe-Abitur Lehrer kritisieren den Beschwerde-Hype

Abiturienten im Spohngymnasium in Ravensburg Quelle: dpa

Zehntausende beschweren sich in Petitionen über das vermeintlich zu schwere Mathematik-Abitur. Warum die meisten Lehrer und Didaktiker das kaum nachvollziehen können.

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Schon  64.000 Menschen (Stand 12 Uhr am 7. Mai)  haben die Petition „Bewertung des Mathe-Abiturs 2019 in Bayern anpassen„ unterzeichnet  - bei rund 37.000 bayrischen Abiturienten. Auch in Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Bremen, Hamburg und dem Saarland, in Mecklenburg-Vorpommern, Berlin, Thüringen und Sachsen-Anhalt empörten sich zehntausende Abiturienten in ähnlichen Petitionen an die jeweiligen Kultusministerien, dass die Mathematik-Aufgaben – die Schulen in den meisten Bundesländern bedienen sich dabei aus einem gemeinsamen Aufgaben-Pool – deutlich schwerer als in den Vorjahren gewesen seien und die Benotung dementsprechend angepasst werden solle. In Bayern und Niedersachsen kündigten die Kultusministerien an, die Aufgaben zu überprüfen. Bereits 2016 wurde in Niedersachsen nach Protesten die Bewertung der Mathematik-Klausuren verändert.  

Während die bayrische Oppositionspartei SPD schnell Sympathie mit den empörten Schülern signalisierte, halten sich Mathematiker und Lehrer eher zurück. Thomas Vogt, Sprecher der deutschen Mathematiker-Vereinigung, rät zur Ruhe. Die extrem hohe Zahl der Petitionsunterschriften allein in Bayern zeige, dass da offenbar über die sozialen Medien ein Hype entstanden sei. Eine Entscheidung über die Anpassung der Noten sollte jedenfalls unbedingt auf fundierten Daten beruhen. Konkret: Erst einmal müssen die Klausuren korrigiert und statistisch erfasst werden, um zu sehen, ob die Durchschnittsnote tatsächlich sehr stark von denen in den Vorjahren abweicht.

Heinz-Peter Meidinger, Präsident des Deutschen Lehrerverbandes und Leiter eines Gymnasiums in Bayern, sieht keinen Anlass für die große Aufregung. „Nach meinen Rückmeldungen von Lehrkräften, die das Abitur schon einmal durchkorrigiert haben, gibt es keinen Anlass dafür, dass dieses Abitur zu schwer war oder jetzt besonders schlecht ausfällt“, sagte er gegenüber der Rhein-Neckar-Zeitung. Hans-Stefan Siller, Professor für Mathematik-Didaktik an der Universität Würzburg, sagt auf Anfrage, die gestellten Aufgaben lägen „absolut im Rahmen dessen, was der Lehrplan als Bezugsnorm vorgibt.“ Der Schnitt der bayrischen Abiturnoten im Fach Mathematik liege in den vergangenen Jahren immer rund um 3,0. Die Lehrer mit denen er bisher gesprochen habe, so Siller, gingen davon aus, dass das in diesem Jahr nicht viel anders sein werde.

„Durchbeißen nicht mehr gewohnt“

Meidingers Vorgänger, Josef Kraus, fand noch viel deutlichere Worte. Für ihn sind die Proteste der Schüler ein „Affenzirkus der Generation Schneeflocke“, wie er im Interview mit dem Bayrischen Rundfunk sagte. Die Schüler seien es offensichtlich nicht mehr gewohnt, sich „durchzubeißen“. Er fordert das bayrische Kultusministerium auf, den Benotungsschlüssel nicht zu verändern und damit den Schülern zu signalisieren: „Ihr müsst das können, sonst seid ihr nicht studierfähig.“

Auch die Vorsitzende des Philologenverbandes, also der Vereinigung der Gymnasiallehrer im Lehrerverband, Susanne Lin-Klitzing, macht deutlich: „Absolventen des Gymnasiums sollten auf jeden Fall in der Lage sein, an einer Hochschule mit Erfolg zu studieren. Das ist die Erwartung des Deutschen Philologenverbandes!“ Die Tatsache, dass die meisten Hochschulen mittlerweile Mathematiknachholkurse für Studienanfänger anbieten, legt laut Kraus nahe, dass ein Abitur heute nicht mehr unbedingt mit Studierfähigkeit gleichzusetzen ist.

Der Philologenverband nimmt daher die aktuelle Aufregung zum Anlass, eine grundlegende Debatte zu führen: „Die gesellschaftliche Bedeutung des Abiturs ist neu zu bestimmen“, sagt Lin-Klitzing. „Die verschiedenen Interessen der Politik, der Wissenschaft, der Wirtschaft, der Lehrkräfte am Gymnasium und nicht zuletzt der jungen Generation, die jetzt gerade aufbegehrt, müssen neu abgestimmt werden.“

Als ein Indiz für abnehmendes Niveau der Schulmathematik in Deutschland kann man die Ergebnisse der letzten PISA-Studie mit Mathematik-Schwerpunkt von 2015 heranführen. Zum Beispiel ist der Anteil der 15 Jahre alten Schüler in Deutschland, die das Höchstniveau erreichten, zwischen 2006 und 2015 in Mathematik von 4,5 Prozent auf 2,9 Prozent gesunken.

Gleichzeitig hat sich in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten der Anteil der Abiturienten und Studienanfänger an den jeweiligen Jahrgängen deutlich erhöht. Seit 2014 gibt es mehr Studienanfänger als junge Leute, die eine Lehre beginnen. Zugleich steigt nicht nur die Zahl, sondern auch der Notenschnitt der Abiturzeugnisse. An manchen Gymnasien liegt dieser Schnitt, wie Josef Kraus sagt, schon bei 2,0 oder besser. Die Annahme, dass dies nicht ohne eine Absenkung des Abiturniveaus möglich war, ist naheliegend.

Dass das Niveau der Abiturprüfungen in Mathematik in den vergangenen Jahren eher abgenommen hat, schreibt auch die Autorin der Petition an das bayrische Kultusministerium selbst: „2016 war es anspruchsvoll, 2017 war es machbar, 2018 war es nahezu leicht…“, heißt es da.

Bei genauerem Hinsehen bietet ihr Petitionstext außerdem unfreiwillig Gelegenheit, über sinkende Fähigkeiten von Abiturienten auch in anderen Fächern zu polemisieren: Im zweiten von nur fünf Sätzen fehlt ein „es“, dafür ist im dritten Satz ein Komma zu viel. Im ersten Satz schreibt sie korrekt „Abiturprüfungen“, im dritten Satz stattdessen „Abitur Prüfungen“.

Früher war es für Lehrer üblich, bei allen Klausuren und Abiturprüfungen einen Quotienten aus Fehlerzahl und Textlänge zu berechnen, der ab einem bestimmten Grenzwert die Note herabsetzte. In den meisten Bundesländern haben die Schulministerien dies aber abgeschafft.

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