
Mehr als ein Jahr nach Einführung des Mindestlohns steht die wissenschaftliche Durchleuchtung des Mindestlohns noch immer am Anfang. Politiker, Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften halten zwar mit ihren Bewertungen schon seit Monaten nicht hinterm Berg – belastbar ökonomisch fundiert sind diese Urteile aber bislang kaum. Auf keiner der Seiten.





Analysen über die Wirkung der 8,50 Euro kranken zunächst an einem generellen Problem sozial- und wirtschaftswissenschaftlicher Forschung: Man kann beobachten, was mit einer bestimmten Maßnahme passiert ist, man kann aber bloß vermuten, was ohne diese Maßnahme passiert wäre.
Für letzteres, die Kontrolle, gibt eben kein Testfeld in der Realität. Politik findet nun einmal nicht im Labor mit Reagenzgläsern statt. Das ist der Grund, warum so häufig auf Vergleiche mit anderen Ländern Bezug genommen wird. Sie sind die einzige Alternative, die man hat. Beim Mindestlohn kommt nun hinzu, dass viele Daten, das statistische Rohmaterial also, über das sich Ökonomen beugen können, erst mit einigem Zeitverzug vorliegen. Es wird also noch etwas dauern, bis die Studienlage wirklich umfangreich und aussagekräftig sein wird.
Die ersten relevanten Arbeiten, die bereits vorliegen, stammen aus dem Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), dem Thinktank der Arbeitsagentur. Da wäre zum einen der so genannte Arbeitsmarktspiegel, der im Auftrag des Bundesarbeitsministeriums erhoben wird. Er hat allerdings in erster Linie beschreibende, nicht erklärende Funktion.
Mindestlohn und Minijobs
Dennoch wird in diesem Arbeitsmarktspiegel eine Phänomen analysiert, das eindeutig mit dem Mindestlohn in Verbindung gebracht werden kann: die Entwicklung der Minijobs. Zum Jahreswechsel 2014/2015 ist die Zahl dieser 450-Euro-Jobs mit fast einhunderttausend Stellen Minus deutlich eingebrochen, was direkt auf dem Mindestlohn zurückzuführen ist. Allerdings, auch das belegt der Arbeitsmarktspiegel, sind diese Einbrüche nicht einfach als Jobverluste zu klassifizieren. Es ist komplizierter: Etwas mehr als die Hälfte dieser Minijobs wurde in sozialversicherungspflichtige Beschäftigung umgewandelt, also sogar aufgewertet – gerade in Niedriglohnbranchen wie der Gastronomie. Der andere Teil hingegen fiel in der Tat weg.
In der Arbeitslosenstatistik gab es allerdings kaum Ausschläge. Die Vermutung: Die wegfallenden Minijobs dürften vor allem von Rentnern, Schülern und Studenten als Zusatzjobs ausgefüllt worden sein, die auf dieses Zubrot nun verzichten müssen, sich aber selten arbeitslos melden (können). Unterm Strich also weder eine schwarze noch eine weiße Erst-Bilanz, sondern eine graue.
Eine zweite, ganz aktuelle Studie des IAB konzentriert sich auf die konkreten Reaktionen in den Betrieben und nutzt dabei den Unternehmensdatensatz des IAB-Betriebspanels. Die Forscher kommen in ihrer Analyse zu diesem Schluss: „Hochgerechnet hätten ohne den Mindestlohn 60.000 zusätzliche Jobs entstehen können.“ Die 8,50 Euro haben demnach bislang keine bestehenden Jobs vernichtet, aber doch dafür gesorgt, dass weniger neue Stellen geschaffen worden sind, als möglich gewesen wären. Zur Einordnung sei aber gesagt: dieser Effekt steht für nicht einmal 0,2 Prozent des deutschen Arbeitsmarktes.
Grundsätzlich weisen Ökonomen und Arbeitsmarktforscher noch auf einen weiteren Aspekt hin. Eine vollständige Bilanz des deutschen Mindestlohns wird erst möglich sein, wenn die Wirtschaft nicht nur einen moderaten, stabilen Aufschwung wie derzeit, sondern auch einen Konjunkturabschwung durchlaufen hat. Aber wünschen kann man sich das wahrlich nicht.