Hat die Politik von Helmut Kohl die deutsche und europäische Geschichte mehr beeinflusst als „die Geschichte" Helmut Kohls Deutschland- und Europa-Politik? Eine Antwort auf diese Frage ist gar nicht so leicht. Aber aufwerfen muss sie, wer sich dem Phänomen Helmut Kohl nähern, sein Regierungshandeln verstehen, seine Lebensleistung einordnen will. Denn Helmut Kohl war der einzige - und vermutlich letzte - deutsche Bundeskanzler, für den Geschichte Erinnerungspflicht und Lehrmeisterin zugleich, aber auch etwas Erhebendes, ja: Waltendes, Geistiges, Göttliches war - etwas, das mächtiger ist als die Welt, von der sie Zeugnis ablegt.
„Geschichte“, so wie Helmut Kohl sie verstand, ist etwas Transzendentes, das in den Menschen west, sie durchflutet, sie mit einem Gefühl von Bedeutung und Verantwortung ausstattet. Konrad Adenauer, der legendäre Gründungskanzler Westdeutschlands, hat in den 1950er Jahren Geschichte gemacht mit Wiederaufbau und Westbindung. Willy Brandt, der große Sozialdemokrat, hat in den 1970er Jahren Geschichte geschrieben mit Entspannung und Ostpolitik. Helmut Kohl allein aber hat in den 1980/90er Jahren Geschichte stilisiert und aufgeladen, vor ihr bestehen und in sie eingehen wollen.
Seine Politik allein war „geschichtlich“ im umfassendsten Sinn des Wortes. Einerseits geprägt von der Erinnerung an deutsche Schuld und millionenfaches Leid, an Krieg und Holocaust, an die Gräuel der Nazis und die Zerstörung Europas in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Andererseits immer auch rührig anverwandelte, emotional vergegenwärtigte, Gegenwart und Zukunft beseelende Geschichtspolitik.
Kohl vor historischer Kulisse
Die Geschichtspolitik von Helmut Kohl war daher immer auch Kulissenpolitik. Die Kaiserdome in Aachen und Speyer, die Gräberfelder von Verdun und Bitburg, das Hambacher Schloß, die Berliner Mauer und das Brandenburger Tor - das alles waren Bühnenbilder, in denen er die Vergangenheit vergegenwärtigend inszenierte und sich selbst in zeithistorischer Hauptrolle aufführte. Kohl wollte mit Symbolen, Bildern und Gesten (be-)rühren, nicht zuletzt sich selbst, weshalb ihm sogar das Gedenken an die eigene Kanzlerschaft zum Besinnungsereignis geriet: Mit einem Großen Zapfenstreich nahm Deutschland, nahm Helmut Kohl am 17. Oktober 1998 Abschied von einem großen Staatsmann. Zu den Klängen von Bachs Orgel-Toccata und vor dem Hintergrund des in der Dämmerung angestrahlten Doms in Speyer, der Grablege des Salierkönigs Konrad II., der die Größe und den Glanz der mittelalterlichen Kaiseridee verkörpert, endete die politische Karriere von Helmut Kohl. “Es sind unwiederbringliche Momente", schreibt der Kanzler damals in sein Tagebuch: "Meine Gefühle lassen sich nicht in Worte fassen.“
Prinzipienfest und offen
Gleich nach seiner Wahl zum Regierungschef am 1. Oktober 1982 schlägt Helmut Kohl den außenpolitischen Kurs ein, der seine Kanzlerschaft prägen wird - ein Kurs, der auf die Vertiefung der wertegebundenen Freundschaft zu den Vereinigten Staaten und auf die „Irreversibilität“ des europäischen Einigungsprozesses abzielt. Die weltpolitische Lage ist damals von der Bipolarität des Ost-West-Konflikts bestimmt, von zwei Supermächten, die sich mitten in Deutschland waffenstarrend gegenüber stehen, vom Propagandakrieg zweier Weltanschauungssysteme, die sich mit Vernichtung und Atomtod drohen.
Angela Merkel: Ich verneige mich vor seinem Angedenken.
Kohl, in historischen Linien denkend, außenpolitisch prinzipenfest bis zur Starrköpfigkeit, zerstreut damals, in einer „Schicksalsstunde Deutschlands“, die Sorgen der Amerikaner, die deutsche Regierung könne einer Friedensbewegung nachgeben, die Hunderttausende von Demonstranten gegen die „Nachrüstung“ mobilisiert. Und Kohl drängt zugleich, in denkbar enger Zusammenarbeit mit dem einstigen Erzfeind Frankreich, auf das, was in Europa heute selbstverständlich geworden ist: auf durchlässige Grenzen und eine eng abgestimmte Sicherheits- und Verteidigungspolitik, auf einen offenen Wirtschaftsraum und eine gemeinsame Währung.
Der Unbeirrbare
Doch die Unbeirrbarkeit Helmut Kohls und seine geschichtlich aufgeladene Politik haben ihren Preis. Der Weg zur deutschen Einheit und zur Verankerung des neuen deutschen Staates im westlichen Institutionengefüge, der Weg in den Euro und zur Osterweiterung der Europäischen Union ist mit deutschen Milliarden gepflastert. Helmut Kohl kauft seine politischen Erfolge ein, auch das gehört zur Wahrheit, und hinter der Kulisse sehr demonstrativ gepflegter politischer Freundschaften geht es oft zu wie auf einem orientalischen Basar.
Europa finanziert, USA beruhigt
Speziell die europäischen Staatschefs lassen sich die obsessive Machtvergessenheit Kohls, seinen postheroischen Internationalismus und seinen ostentativen Willen zur deutschen Selbstbeschränkung reich vergüten. „Jede für Europa ausgegebene Mark ist gut angelegtes Geld“ - davon ist Helmut Kohl, der Anti-Bismarck, überzeugt - und seine Amtskollegen in Paris und London wissen das auszunutzen. Margaret Thatcher braucht das Projekt Europa nur in Frage zu stellen, schon gewährt Kohl ihr den „Britenrabatt“ (1983). Frankreich braucht nur ein wenig zu stöhnen über teure Agrarreformen - schon ist Kohl bereit, die Deutschen zur Kasse zu bitten (1984). Auf dem Höhepunkt seiner Kanzlerschaft, 1990, finanziert die Bundesrepublik fast 70 Prozent der EU-Nettotransfers.
Mit der Einheit nimmt Helmut Kohls „Bimbes-Politik“ beinah’ obszöne Züge an. 18 Milliarden Mark lässt er 1990 für die USA und die Frontstaaten springen, um Deutschland eine militärische Beteiligung am ersten Golfkrieg zu ersparen und die Amerikaner bei Laune zu halten während des Vereinigungsprozesses - mehr als Washington erbeten hat. Mehr als 100 Milliarden Mark überweist Kohl bis 1996 in die Sowjetunion, die osteuropäischen Länder und die GUS-Staaten, sei es für den Abzug der russischen Streitkräfte, sei es in Form von Wirtschaftshilfen, Kreditgarantien, Hermes-Bürgschaften, Investitionszuschüssen. Noch mehr Geld fließt als direkte Aufbauhilfe in die neuen Bundesländer; hinzu kommen die Kosten für die Währungsumstellung, Sozialtransfers, die Beseitigung von Altlasten.
Geld spielte kaum eine Rolle
Kohl ist damals wie im Rausch. Plötzlich ist es, als fügten sich alle Mosaiksteine seiner Außenpolitik zu einem politischen Meisterwerk, als sei all’ sein Wirken zwangsläufig auf diesen welthistorischen Moment hinaus gelaufen: auf das denkbar beste Ende eines fürchterlich gewaltsamen 20. Jahrhunderts. Kohl spürt den „Rockzipfel der Geschichte“, fühlt sich wie ein Werkzeug von Hegels Weltgeist, der alles zum Besten ordnet. Er will „blühende Landschaften“ herbei zaubern, Deutschland mit Polen, Tschechien, Ungarn und Europa mit sich selbst versöhnen - und er wischt mit der Nonchalance eines Traumwandlers die Bedenken derer beiseite, die er im göttlichen Moment glückender Geschichte nur für Knauser und Knicker, für politische Kleinkrämer und ökonomische Erbsenzähler halten kann. Geld? Was für eine Profanität: „Zur Not drucken wir halt ein bisschen mehr.“
Kein Wunder, dass Kohl es auch mit der Stabilität der D-Mark nicht so genau nimmt. Nach der geglückten deutschen Einheit muss es jetzt auch schnell vorwärts gehen mit den „Vereinigten Staaten von Europa“. Die politischen Lokomotiven in diesem Prozess sollen eine zügige Osterweiterung der EU und eine gemeinsame Währung sein. In Frankreich, das sich gerade von einer Franc-Krise erholt hat, kann man sich 1988 nicht einmal im Traum vorstellen, dass Deutschland auf die D-Mark verzichtet: „Die Macht Deutschlands“, weiß Mitterrand, „beruht auf der Wirtschaft, und die D-Mark ist Deutschlands Atombombe.“
Werkzeug der Geschichte
Doch Kohl („Führen heißt, eine Vision in die Realität umsetzen.“) ist auch diesmal bereit, Deutschland zur europäischen Subsidiarmacht zu schrumpfen - koste es, was es wolle. Gegen den Willen seiner Finanzminister, gegen den Einspruch der Bundesbank und erst recht gegen die Wirtschaftsdaten einiger Euro-Länder, verzichtet Kohl auf Deutschlands Status einer finanziellen Nuklearmacht und setzt 1991 in Maastricht seinen Fahrplan zur Währungsunion durch. Der Euro soll forcieren, was geschehen muss, weil in den Geschichtsbüchern von morgen geschrieben steht: Und siehe, Europa ward friedlich, einig, eins. Noch 2002, bei der Einführung des Euro, ist Kohl von der historischen Tragweite seiner Entschlusskraft, vom „Geist der Geschichte“ ergriffen: „Ich bin mir sicher: In fünf oder sechs Jahren werden auch die Briten mit dem Euro zahlen… In zehn Jahren wird es die einheitliche Währung auch in Zürich geben.“
Erinnerung an Einheit und Einigung
Was also bleibt von Helmut Kohl? Nun - exakt das, wovon er träumte: die Erinnerung an den „Kanzler der deutschen Einheit“ und an den „Kanzler der europäischen Einigung“. Sicher, der ökonomische Preis seiner postnationalen Europapolitik wird heute viel höher veranschlagt als damals - und die politische Dividende niedriger. Mehr noch: Der EU droht heute ausgerechnet von Seiten jener Gefahr, die Europa als politischen Wert an sich verheiligen, es sich gleichzeitig zur Beute ihrer nationalen Egoismen machen und meinen, es mit dem ökonomischen Einmaleins nicht so genau nehmen zu müssen.
Kohl selbst hat sich das Ausmaß falsch verstandener Solidarität nicht vorstellen können und den Kosten des Euro die Chancen eines integrierten Wirtschaftsraumes entgegengehalten, nicht zuletzt für die deutsche Exportindustrie - ein Argument, das in Stellungnahmen von Verbandsvorständen und Top-Managern bis heute nachhallt. Unumstritten bleiben seine Verdienste um die deutsche Einheit. Kohl hat damals, als Intellektuelle, Linksliberale und Politiker aller Parteien feuilletonistischen Gespenstern von Zweistaatlichkeit und Kulturnation nachjagten, das „Fenster der Geschichte“ aufgehen sehen und mit mutiger Entschlusskraft die Weichen gestellt für die blockfreie, dezentrierte Welt, in der wir heute leben.
Es ist töricht, Kohls beherzte Politik gegen auf die aufopferungsvolle Freiheitsbewegung in der DDR oder Gorbatschows Perestroika auszuspielen, um seine, ja: historische Großtat zu relativieren. Für den langen Moment der Weltwende 1989/90 schien Helmut Kohl damals das „Ende der Geschichte“ gekommen, schienen historischer Auftrag, programmatische Mission und eine sich gegenwärtig vollziehende politische Wirklichkeit ineinanderzufallen: Geschichte als Subjekt - Helmut Kohl ihr Werkzeug. Man hat ihn sich in jenen Monaten als glücklichen Menschen vorzustellen.
Die wichtigsten politischen Stationen Helmut Kohls
1946: Eintritt in die CDU
1955: Mitglied im Vorstand der CDU Rheinland-Pfalz
1959: Zum ersten Mal in den Landtag von Rheinland-Pfalz gewählt
1963: Wahl zum Fraktionsvorsitzenden
1964: Wahl in den CDU-Bundesvorstand
1966: Wahl zum CDU-Landesvorsitzenden
Quelle: dpa
Kohl übernimmt in der Mitte der Legislaturperiode das Amt des rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten von Peter Altmeier. Nach zweimaliger Wiederwahl mit absoluten Mehrheiten gibt er das Amt im Dezember 1976 an Bernhard Vogel ab.
Erste Kanzlerkandidatur Kohls. Die Union wird mit 48,6 Prozent stärkste Fraktion, aber SPD und FDP behalten ihre Mehrheit. Kohl tritt im Dezember als Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz zurück und wird Oppositionsführer im Bundestag.
Nach dem Bruch der sozialliberalen Koalition setzt Kohl ein konstruktives Misstrauensvotum gegen Helmut Schmidt durch und wird zum Bundeskanzler gewählt. Durch eine gezielt verlorene Vertrauensabstimmung macht Kohl im Dezember 1982 den Weg für eine Neuwahl frei.
Bei der Bundestagswahl erhalten Union und FDP eine klare Mehrheit für die von Kohl angekündigte Politik der "geistig-moralischen Wende".
1984: Innenpolitische Krisen wegen der Affäre um General Kießling und der Flick-Parteispendenaffäre. Im September trifft sich Kohl mit dem französischen Präsidenten Francois Mitterrand am Ort der Schlacht um Verdun zum gemeinsamen Gedenken an die Toten der beiden Weltkriege. Die Bilder des minutenlangen Händedrucks wurden zum Symbol der deutsch-französischen Aussöhnung.
Mai 1985: Der gemeinsame Besuch Kohls mit US-Präsident Ronald Reagan auf dem Soldatenfriedhof in Bitburg löst heftige Kontroversen aus. Auf dem Friedhof sind auch Angehörige der Waffen-SS beerdigt.
November 1986: Kohl vergleicht den sowjetischen Parteichef Michail Gorbatschow in einem "Newsweek"-Interview mit NS-Propagandaminister Joseph Goebbels.
1989: Innerparteiliche Widersacher um Heiner Geißler, Lothar Späth und Rita Süssmuth schmieden Pläne zur Ablösung Kohls. Der erfährt davon und kann den Putschversuch abwehren.
Am 9. November fällt die Mauer. Kohl verkündet danach ein Zehn-Punkte-Programm zur stufenweisen Herstellung der Einheit Deutschlands und Europas.
Abschluss der Einigungsverträge. Gegen den Widerstand von Bundesbankpräsident Karl Otto Pöhl setzt Kohl einen Umtauschkurs von Ost- in D-Mark von 1:1 durch. In einer Fernsehansprache verheißt er in Ostdeutschland "blühende Landschaften". In den 2+4-Verhandlungen mit den Siegermächten des Zweiten Weltkriegs erreicht Deutschland die Rückgabe seiner vollen Souveränität. Zusammen mit Außenminister Hans-Dietrich Genscher erwirkt Kohl bei einem Besuch in der Sowjetunion die Zustimmung Gorbatschows, dass das vereinigte Deutschland in der Nato bleiben kann.
Am 3. Oktober 1990 ist Deutschland wiedervereinigt. Bei der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl im Dezember wird die Regierung Kohl im Amt bestätigt.
Kohl bricht sein Wahlversprechen von 1990, die Steuern wegen der deutschen Einheit nicht zu erhöhen. Außenpolitisch treibt seine Regierung zusammen mit Frankreich die europäische Einigung voran, die auf dem EG-Gipfel von Maastricht in der Vereinbarung über die Einrichtung einer Europäischen Union mit einer gemeinsamen Währung, dem Euro, mündet.
Union und FDP gewinnen die Bundestagswahl.
Kohl kündigt entgegen früheren Äußerungen seine neuerliche Kandidatur für die Wahl 1998 an. Wenig später präsentierte er Wolfgang Schäuble als seinen Wunsch-Nachfolger.
Regierung Kohl wird abgewählt, Kohl tritt auch als CDU-Vorsitzender zurück und wird Ehrenvorsitzender.
Aufdeckung der CDU-Spendenaffäre. Kohl räumt ein, selbst in den Jahren 1993 bis 1998 für die Partei Spenden von 1,5 bis zwei Millionen Mark erhalten und nicht angemeldet zu haben. Er verweigert jede Auskunft über die Namen der Spender mit der Angabe, er habe den Geldgebern mit seinem Ehrenwort Anonymität zugesichert. Es kommt zum Bruch mit der Parteiführung um Parteichef Schäuble und Generalsekretärin Angela Merkel. In der Folge wird er im Januar 2000 zum Verzicht auf den Ehrenvorsitz gezwungen.
Die Bonner Staatsanwaltschaft stellt ein Ermittlungsverfahren gegen Kohl zur Spendenaffäre gegen Zahlung einer Geldbuße von 300.000 Mark wegen geringer Schuld ein.
Kohls Frau Hannelore nimmt sich das Leben.
2004: Kohl legt den ersten Teil seiner Autobiografie vor, weitere Bände folgen.
2007: Nach mehreren Operationen verschlechtert sich Kohls Gesundheitszustand. Er tritt seltener in der Öffentlichkeit auf.
2008: Kohl heiratet Maike Richter.
2011: In einem Interview übt Kohl Kritik an der deutschen Außen- und Europapolitik, was als Kritik an Bundeskanzlerin Angela Merkel wahrgenommen wird. Später relativiert er diese Interpretation etwas.
2012: Die Kanzlerin würdigt Kohl zum 30. Jahrestag seiner Wahl zum Bundeskanzler und überreicht ihm eine Sonderbriefmarke mit der Aufschrift "Kanzler der Einheit" und "Ehrenbürger Europas".