Nachruf auf Helmut Schmidt Der Kompass

Helmut Schmidt ist tot. Er war ein Staatsmann von Format, ein Genie des politischen Handelns, ein souveräner Kapitän - ein großer Deutscher, vor dessen Regierungsbefugnis, Erkenntnisvermögen, Intellektualität und Urteilskraft sich selbst politische Feinde verneigten.

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Altbundeskanzler Helmut Schmidt. Quelle: imago images

Für Deutsche unter 40 war Helmut Schmidt ein Politiker von Gestern, einer mit Karte und Kompass, der Letzte seiner Art. Einer, der jungen Menschen kraft Autorität und Alter Ehrfurcht einflößte, vor seiner Profession und auch vor der Bedeutung von Politik. Sie bestaunten ihn im Fernsehen, wie eine lebende Reliquie, umwölkt von Rauchschwaden, die nach Weihrauch duften mussten. Sie verehrten ihn für die lakonische Klarheit, mit der er das Weltgeschehen rezensierte, für die Entschiedenheit seiner Urteile, die er wie Gottesgesetze in die flüchtige Zeit zu meißeln verstand. Helmut Schmidt, zuletzt fast taub, im Rollstuhl sitzend, war die Stimme der Weisheit, die aus der Ferne des politischen Analogzeitalters zu den Digital Natives sprach - das Weltorakel mit der Lizenz zum letztgültigen Ratschluss.

Es ist in seinem Fall keine Floskel, dass Helmut Schmidt „uns fehlen“ wird. Er war nicht länger als acht Jahre Bundeskanzler, von 1974 bis 1982, aber er war auch in den Jahrzehnten seither nie „Außer Dienst“, so der selbstironische Titel seiner Lebensbilanz. Im Gegenteil: Helmut Schmidt wuchs vom Politiker über den Publizisten gleichsam über sich selbst hinaus und avancierte zu einer Art Staatssymbol der Bundesrepublik, ganz so wie Wappen, Siegel, Flagge, Hymne. Am Dienstagnachmittag ist Helmut Schmidt in Hamburg im Alter von 96 Jahren gestorben.

War Helmut Schmidt ein großer Bundeskanzler? Gemessen an Konrad Adenauer, Willy Brandt und Helmut Kohl, mit deren Namen sich politische Mythen verbinden (Westintegration, Ostpolitik, Wiedervereinigung), vielleicht nicht. Man verbindet mit ihm kein politisches Projekt, keine Lebensaufgabe, geschweige denn eine Vision. Helmut Schmidt war der Kanzler der Ölkrise, des Deutschen Herbstes und des Kalten Krieges - der Kanzler einer merkwürdig unspezifischen Scharnierzeit, in der sich in westlichen Gesellschaften postmoderne Ansprüche entwickelten und China seine Rückkehr auf die Weltbühne ankündigte, in der eine global vernetzte (Wirtschafts-)Welt skizzenhaft Gestalt annahm - und in der die (west-)deutsche Normalität von Terroristen und Kreml-Kadern in Frage gestellt wurde.

Helmut Schmidts Leben in Bildern
Helmut Schmidt ist am 10. November 2015 in Hamburg gestorben. Der Altkanzler wurde 96 Jahre alt. Von 1974 bis 1982 war er der fünfte Regierungschef der Bundesrepublik. Quelle: dpa
Wehrmachtsoffizier Schmidt (1940): Der Hamburger musste im Zweiten Weltkrieg als Soldat an die West- und Ostfront und arbeitete zwischenzeitlich im Reichsluftfahrtministerium. 1945 geriet er in britische Kriegsgefangenschaft. Nach Gründung der Bundeswehr wurde Schmidt 1958 zum Hauptmann der Reserve befördert. Quelle: AP
Hamburger Sturmflut (1962). Sein beherztes Agieren als Polizeisenator während der Flutkatastrophe begründete Helmut Schmidts Ruf als Krisenmanager mit stählernen Nerven. Schmidt koordinierte den Rettungseinsatz und holte - formal ohne rechtliche Grundlage - Hilfe bei Bundeswehr und NATO. Später soll er gesagt haben: "Ich habe das Grundgesetz nicht angeguckt in diesen Tagen". Quelle: dpa
Vereidigung zum Kanzler (1976): Schmidt machte eine steile politische Karriere. Er war zuerst Verteidigungsminister, danach Finanzminister. Nach dem Rücktritt von Willy Brandt 1974 wählte ihn der Bundestag zum Bundeskanzler. Zwei Jahre später gewann er die Wahl gegen Helmut Kohl. Quelle: dpa
Deutsch-französische Freundschaft: Mit dem französischen Präsidenten Giscard d´Estaing trieb Helmut Schmidt die europäische Einigung voran. Die beiden Staatslenker waren maßgeblich am Aufbau des Europäischen Währungssystems (EWS) und der Einführung der EU-Kunstwährung ECU beteiligt, einem Vorläufer des Euro. Quelle: AP
Deutscher Herbst: Schmidt auf der Trauerfeier für den von RAF-Terroristen ermordeten Arbeitgeberpräsidenten Schleyer (1977). Der RAF-Terror war eine der größten politischen Herausforderungen während Schmidts Kanzlerschaft. Quelle: dpa
Staatschefs unter sich: Schmidt mit Frankreichs Präsident Giscard D´Estaing, Italiens Ministerpräsident Cossiga, US-Präsident Carter und der britischen Premierministerin Thatcher in Venedig (1980). Quelle: dpa

Nein, als großer Kanzler bleibt Helmut Schmidt nicht in Erinnerung. Aber als großer Deutscher - und es tut nichts zur Sache, dass die Bilanz seines politischen Lebens von der schieren Länge seines politischen Nachlebens profitiert, von seiner publizistischen Betriebsamkeit und intellektuellen Agilität bis ins hohe Alter. Helmut Schmidt war ein Staatsmann von Format, ein Genie des politischen Handelns, ein verlässlicher Lotse und souveräner Kapitän - einer wie Bismarck, vor dessen Regierungsbefugnis, Erkenntnisvermögen, Intellektualität und Urteilskraft sich selbst politische Feinde verneigten. Seine Schiedssprüche über andere, die „ihren Aufgaben nicht gewachsen“ waren, hatten Bannkraft, gerade weil sie von scharfrichterlicher, zuweilen auch herablassender Art waren.

Deutsche vertrauten Schmidt

Umgekehrt wurde noch das beifälligste Lob aus Schmidts berufenem Munde von seinen Empfängern als fürstliche Huld empfunden. Es gab bis zuletzt keinen Politiker, Unternehmer, Journalisten, der restlos unabhängig war von der Meinung, die Helmut Schmidt sich über ihn gebildet hatte. Natürlich spielte er mit dem Nimbus seiner analytischen Kompetenz. Sicher kokettierte er mit der Nüchternheit seiner „Realpolitik“. Doch so sehr er mit der unbestechlichen Kühle seines Regierungsstils und mit der Ideologieferne jeder seiner Entscheidungen auch sich selbst weihte: Mit seinem tief empfundenen Misstrauen gegen Eiferei und Gefühligkeit, seiner Unabhängigkeit vom Zeitgeist und der schieren Präsenz seiner bildungsbürgerlich unterlegten Geistesgaben konnte er auf das unbedingte Vertrauen der Deutschen zählen. Vier von fünf Bundesbürgern, so ergab 2008 eine Umfrage, hätten noch dem 90-jährigen Helmut Schmidt das Land bedenkenlos zur Regierung anvertraut. 

"Eine Zäsur für Deutschland"
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU): „Er war auch für mich eine Instanz, dessen Rat und Urteil mir etwas bedeuteten. (...) Ich stehe hier in tiefem Respekt vor den Leistungen Helmut Schmidts.“ Quelle: REUTERS
Vizekanzler Sigmar Gabriel (SPD): "Wir trauern um Helmut Schmidt und sind stolz darauf, dass er einer von uns war. Seine Urteilskraft und sein Rat werden uns fehlen." Quelle: dpa
Bundespräsident Joachim Gauck:"Wir trauern um einen der bedeutendsten deutschen Politiker der Nachkriegszeit. In seinen öffentlichen Ämtern, ganz besonders als Bundeskanzler, hat Helmut Schmidt Großes geleistet. Sein entschlossenes Handeln in schwierigsten Situationen, seine Fähigkeit, das Machbare zu erkennen und zu gestalten, aber auch seine Kompromissfähigkeit, sein Eintreten für die Verteidigungsbereitschaft der freien Staaten Europas in Zeiten der Bedrohung - das alles steht mir und vielen Menschen in unserem Land in diesen Stunden der Trauer vor Augen." Quelle: dpa
Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD): "Deutschland hält inne. ... Wir Deutschen haben eine Vaterfigur verloren. Helmut Schmidt hat uns und unser Land tief geprägt. Generationen - auch ich - haben seine Klugheit und Autorität gesucht und geschätzt - bis an sein Lebensende in einem gesegneten Alter. Helmut Schmidt war nicht nur Kanzler der Deutschen - er war Mentor der Deutschen." Quelle: dpa
Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU): "Deutschland hat einen Großen verloren. Als Bürgermeister von Hamburg, als Finanzminister und als Bundeskanzler, Helmut Schmidt wusste, worauf es ankam. Er hat Politik kraftvoll gestaltet - gerade in Krisenzeiten." Quelle: dpa
EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker: "Er war ein Freund, der mir, ebenso wie Europa, fehlen wird. Denn mit ihm verlieren wir einen besonderen Menschen, dessen politischer Mut viele bewegt hat. Quelle: dpa
SPD-Fraktionchef Thomas Oppermann: "Ich verneige mich vor der Lebensleistung von HelmutSchmidt. Er war überzeugter Sozialdemokrat und großer Europäer. Er wird uns fehlen." Quelle: dpa

Helmut Schmidts politischer Stern geht 1962 als Senator der Polizeibehörde (Innensenator) in Hamburg auf: Sein zupackendes Eingreifen bei der verheerenden Elbflut weist ihn als handlungsstarken Krisenmanager aus, hinter dem sich in tragischen Zwangslagen der Glaube an eine Lösung, die Hoffnung auf einen Ausweg versammeln können. Wie viel das wert ist, zeigt sich im Deutschen Herbst 1977. Die zweite Generation der Rote Armee Fraktion (RAF) hat den CDU-Politiker Peter Lorenz entführt und die deutsche Botschaft in Stockholm überfallen, sie hat Jürgen Ponto, den Vorstandssprecher der Dresdner Bank, ermordet und soeben Hanns-Martin Schleyer, den Präsidenten des Arbeitgeberverbandes, entführt. Die Terroristen fordern die Freilassung von inhaftierten RAF-Mitgliedern, darunter Gudrun Ensslin und Andreas Baader.

Helmut Schmidts Regierung ist zwei Jahre zuvor auf ähnliche Forderungen der Entführer von Peter Lorenz eingegangen; seither ist der Kanzler entschlossen, den Terroristen die Stirn zu bieten: kein Gefangenenaustausch - Deutschland darf sich nicht erpressen lassen. 44 Tage zieht sich das Geiseldrama hin. Helmut Schmidt wird Hartherzigkeit vorgeworfen, Schuld, Menschenquälerei. Die enorme Verantwortung für das Leben anderer, sagt er später, habe ihn seelisch schwer bedrückt. Dann wird ein von Terroristen entführtes Flugzeug der Lufthansa in Mogadischu von der deutschen Polizei gestürmt. Baader und Ensslin setzen ihrem Leben ein Ende. Hanns-Martin Schleyer wird ermordet. „Mir war immer klar“, so Helmut Schmidt, „dass ich mitschuldig war.“ 

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