Pandemiebekämpfung Ich erkenne unser Land nicht wieder

 Zwei Passanten gehen an einem aufgegebenen Geschäft auf der Frankfurter Einkaufsmeile Zeil vorbei Quelle: dpa

Die Bundesrepublik steht vor einer dritten Welle – weil die bisherige Pandemiebekämpfung einem Armutszeugnis gleicht. Was es jetzt dringend braucht? Pragmatismus und Entschlossenheit. Ein Gastkommentar.

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Gewiss ist die Bewältigung einer Pandemie eine große Herausforderung. Dennoch erkenne ich das Land, in dem ich aufgewachsen bin, momentan nicht wieder. Was uns sehr weiterhelfen würde, ist eine Rückbesinnung auf die Wurzeln des Erfolgs der Bundesrepublik nach 1949. Ihre Erfolgsgeschichte beruht im Kern auf zwei Faktoren: einem dynamischen Privatsektor und einer kompetent agierenden Politik und Verwaltung.

Leider haben wir als Nation auch nach einem Jahr Pandemiebekämpfung wenig mehr aufzuweisen als administratives Herumlavieren. Ein überzogener Datenschutz erschwert die Analyse des Verbreitungsmusters des Virus. Unsere Gesundheitsämter machen immer noch am Wochenende Pause. Es ist noch nicht einmal gelungen, das Berichts- und Meldewesen zu standardisieren und zu digitalisieren. Das ist einer führenden Industrienation wie Deutschland nicht würdig und in einer Pandemie schlichtweg inakzeptabel.

Stattdessen betreiben wir engagiert eine öffentliche „Vordrängel-Diskussion“, bei der es aber nur scheinbar um Gerechtigkeit geht. In Wirklichkeit handelt es sich um eine unschöne Mischung aus „German Neid“ und der Sorge der Politik und den Verwaltungen, irgendeinen Fehler zu machen und so angreifbar zu werden. Unter solchen Vorzeichen ist es unmöglich, schnelle, pragmatische Entscheidungen zu treffen. Und überhaupt: Wo genau verläuft denn die „Grenze der Gerechtigkeit“? Zwischen den einzelnen Bundesländern? An der deutschen Grenze? Oder ist es die EU? Warum ist es eigentlich nicht die gesamte Weltbevölkerung?

Statt endlich Mut zum pragmatischen Handeln an den Tag zu legen, führen Politik und Verwaltung abstrakte Diskussionen um Priorisierungen, die zunehmend weltfremd sind und schnelle Hilfe verhindern. Natürlich ist es ethisch und menschlich richtig, besonders gefährdete Menschen zu priorisieren – aber das schafft ein dezentrales System der niedergelassenen Ärzte und Betriebsärzte schneller, besser und verantwortungsvoller. Auch der Versuch, eine perfekt gerechte Rangfolge von 83 Millionen Menschen zu schaffen, ist illusorisch.

Es ist ein großer Fehler, in Verkennung der besten deutschen Traditionen im Impfwesen auf einen hochgradig zentralistischen Impfansatz zu setzen. Impfzentren sind keineswegs per se schlecht, setzen aber voraus, dass die Organisation der Terminvergabe effizient geregelt ist. Und genau daran hapert es bei uns in Deutschland. Uns fehlt ja schon die Datenbasis, um die „Impfbürger“ überhaupt zielgerichtet anzusprechen. Darüber hinaus wirkt die Schaffung riesiger Impfzentren auf den Einzelnen eher wie planwirtschaftlicher Gigantismus. Obendrein hat der gewählte Ansatz das organisatorische Unvermögen unserer Verwaltung in schockierender Weise zutage gefördert.

Vor allem fehlt es nach wie vor an den für eine solche Projektabwicklung unbedingt erforderlichen Systemen sowie der Kompetenz im Projektmanagement. Da wir in Deutschland sehr schnell ein Impftempo von einer Million Impfungen am Tag brauchen werden, um die Impfkampagne vor Ende des Sommers umzusetzen, brauchen wir schnell einen Multikanal-Ansatz.



Insofern ist mir auch unerklärlich, warum die in unserem sozialwirtschaftlichen System so erfolgreich verankerten und wohletablierten Lösungssysteme bis zum heutigen Tag kleingeredet werden: die Haus-, Fach- und Betriebsarztpraxen sowie unsere vorbildliche Apotheken-Logistik. Das Band des Vertrauens zwischen Ärzten und ihren Patienten sowie Apotheken und ihren Kunden ist sehr belastbar. Es stellt gerade für potenzielle Impfverweigerer eine nützliche Brücke dar.

Für den von der Bundesregierung und den Bundesländern vorgegebenen zentralistischen Ansatz hätte es einer nachgewiesenen Kompetenz im Beschaffungswesen und im Projektmanagement bedurft. Aber an genau diesen besonders kritischen Schnittstellen hapert es bei unserer Verwaltung.

Das gilt leider auch auf der europäischen Ebene. Ich bin ein großer Anhänger der europäischen Integration. Aber ich weiß auch, dass man – vor allem bei Großprojekten – sehr auf das Vorhandensein von echten Kernkompetenzen achten muss. Die EU- Kommission weist viele Qualifikationen auf, aber das Beschaffungswesen gehört nicht dazu. Das ist kein Vorwurf, sondern lediglich ein Hinweis auf nicht vorhandene Kompetenz.

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Was ist zu tun? Es ist allerhöchste Zeit, den Weg für die tagtäglich nachgewiesenen, großen Planungs- und Exekutionskompetenzen von Unternehmen des Privatsektors sowie der Haus-, Fach- und Betriebsarztpraxen freizumachen. Auf diese Weise können wir retten, was noch zu retten ist. Denn die tragischste Wahrheit der aktuellen Pandemie ist doch diese: In Deutschland gibt es erwiesenermaßen hervorragende Forschungskapazitäten; siehe Biontech. Der bislang wohl beste Impfstoff wurde in Deutschland entwickelt. Geradezu tragisch ist, dass wir dann beim „Rollout“, also der Umsetzung dieser hervorragenden Forschung, echte Probleme haben.

Die Wirtschaft und die Ärzteschaft bieten die notwendige Dosis Pragmatismus und Flexibilität, mit der es uns doch noch gelingen kann, wieder an die stolzen Traditionen der Bundesrepublik anzuknüpfen. Der Impfstoff wirkt eben nur im Oberarm – und nicht im Kühlschrank.

Stefan Klebert, 55, ist Vorstandsvorsitzender des MDax-notierten Anlagenbauers Gea.

Mehr zum Thema: Ein dritter Lockdown rückt gefährlich nahe. Das könnte das endgültige Aus für viele Betriebe in den betroffenen Branchen bedeuten.

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