Aber bei der Rente gelten eben eigene Gesetze. Nicht erst seit Norbert Blüm in den Achtzigerjahren auf eine kleine Leiter stieg, in der Hand den Kleisterbesen, im Gesicht fröhliche Unverdrossenheit, und Plakate mit der Aufschrift „Denn eins ist sicher: die Rente“ an eine Litfaßsäule pappte, nicht erst seitdem ist die Altersversorgung den Deutschen und ihren Volksvertretern Fetisch und Heiligtum zugleich. Die Rente ist seit Bismarck eine nationale Errungenschaft, die Rentenkasse der Sparstrumpf der sozialen Marktwirtschaft, ihr Schatz und Stolz. Eine gigantische Umlagemaschine mit 250 Milliarden Euro Jahresvolumen.
Eine eiserne Regel der Politik lautet deshalb: kein Wahlkampf ohne. 2009 erfand die große Koalition kurzerhand eine Rentengarantie, weil es unter allen Umständen den ultimativen GAU zu verhindern galt: eine drohende Kürzung der Altersgelder. Rentner sind nun mal besonders viele, treue und überdurchschnittlich fleißige Wähler – mit dieser Sorte legt man sich besser nicht an.
Dringende Appelle
Der dringende Appell der Experten, die Rente einfach in Frieden zu lassen, dürfte deshalb ungehört verhallen. „Dank der zurückliegenden Reformen der letzten zehn Jahre haben wir bei der Rente die Kurve bekommen“, bilanziert Börsch-Supan. Die Rente mit 67, die Einführung des Nachhaltigkeitsfaktors und ein langsam sinkendes Versorgungsniveau haben das System zumindest auf absehbare Zeit stabilisiert. „Das nimmt den Parteien ein angestammtes Spielfeld weg – und das ärgert sie.“
Wirklich schlüssig hat bisher noch kein Politiker erklären können, warum er sich dem weit weniger drängenden Problem der Altersarmut mit weit mehr Verve widmet als dem akuten bei der Jugend. Nur etwa 2,6 Prozent der über 65-Jährigen sind heute arm, rund 15,3 Prozent gelten als armutsgefährdet. Bei den 18- bis 25-Jährigen fallen hingegen 22,4 Prozent in letztere Kategorie. Wer nach Handlungsbedarf sucht, findet ihn in der Schule oder auf dem Bolzplatz, weniger im Seniorenheim. „Es gibt ein Armutsrisiko im Alter – aber es wird überschätzt“, sagt Sozialökonom Martin Werding von der Ruhr-Universität Bochum.
Eine erklärte Chef-Kümmerin wie Sozialministerin von der Leyen lässt sich von solchen Fakten nicht von ihrem Weg abbringen. Gering- bis Normalverdienern drohe nach Jahrzehnten harter Arbeit „der Gang zum Sozialamt“, warnte die Ministerin, als sie ihr Konzept zum ersten Mal vorstellte. Um ihre Warnung zu untermauern, schreckte von der Leyen selbst vor absichtlicher Rufschädigung der Rente nicht zurück: Wer 35 Jahre lang 2500 Euro brutto verdient habe, bekäme im Jahr 2030 nur etwa 688 Euro. Sprich: Die erarbeitete Rente reiche gerade mal für mickrige Ansprüche auf dem Niveau von Hartz IV.
„Mit 30 oder 35 Jahren Arbeit eine auskömmliche Rente finanzieren zu wollen ist illusorisch, wenn wir 80 Jahre alt werden“, sagt Börsch-Supan. „Die Rente ist heute für mehr als 80 Prozent der Bevölkerung solide finanziert“, findet Raffelhüschen. Von der Leyen ficht die geballte Kritik nicht im Mindesten an. Die Rechnung hinter der Rechnung: Wer mit Armutswarnungen die gesetzliche Versorgung demontiert, kann hinterher umso glanzvoller als Retter der Gerechtigkeit auftreten.