Rentendebatte „Ich fürchte, dass schon 2022 der Beitragsschock kommt“

65? 68? Oder sogar 70? Bis wann sollten die Deutschen arbeiten? Die Altersgrenze ist ein höchst umstrittenes Thema. Quelle: imago images

Der Ökonom Axel Börsch-Supan erklärt seine höchst umstrittene Forderung nach einer Rente mit 68, warnt vor verfrühstückten Reserven – und plädiert für Umverteilung zugunsten von Kleinverdienern.

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Axel Börsch-Supan lehrt und forscht am Münchner Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik und ist dort geschäftsführender Direktor des „Munich Center for the Economics of Ageing“. Seit Jahrzehnten berät der Volkswirt Regierungen in sozialpolitischen Fragen, auch die deutsche. Er schrieb federführend das Rentengutachten des Wissenschaftlichen Beirates beim Bundeswirtschaftsministerium, das in den vergangenen Tagen eine heftige Debatte auslöste.

WirtschaftsWoche: Herr Börsch-Supan, wie fühlt man sich als Renten-Buhmann der Nation?
Axel Börsch-Supan: Ach, ich bin Kummer gewöhnt, wenn es um die Rentenpolitik geht. Im Übrigen bin ich ja allenfalls der Buhmann der großen Koalition.

Aber haben Sie mit so leidenschaftlichen, teilweise auch wütenden Reaktionen gerechnet?
Offen gesagt nein. Denn fast alles, was wir in dem Gutachten zusammengetragen haben an Zahlen und Prognosen, ist ja nicht neu. Es werden dann jedoch meist nur Ausschnitte herausgenommen und dann verzerrt diskutiert. Das tut der Sache nicht gut.

Sie meinen die Rente mit 68 – in einem Wahljahr gibt das natürlich immer Stress.
Genau das meine ich mit verzerrt: Wir fordern die Rente mit 68 nicht kategorisch. Wir schlagen ein Modell vor, bei dem bei steigender Lebenserwartung auch etwas länger gearbeitet werden müsste. Das kann eines fernen Tages zur Rente mit 68 führen, muss aber nicht. Vor allem haben wir für mehr Flexibilität beim Renteneintritt geworben; statt des starren Eintrittsalters sollte es eine Art Eintrittsfenster geben.



Warum?
Weil die Menschen verschieden sind. Die einen können und wollen nicht mehr arbeiten – und das ist vollkommen in Ordnung so. Andere aber verfallen in Depressionen nach dem Ruhestand und wären noch fit. Dem tragen wir heute viel zu wenig Rechnung.

Treten wir mal einen Schritt zurück: Wurde die Reformdividende im Rentensystem, die etwa durch die Einführung der Rente mit 67, den Nachhaltigkeitsfaktor und auch mithilfe des brummenden Arbeitsmarktes aufgebaut wurde, verfrühstückt?
Leider kann ich das nur lautstark mit ja beantworten. Entscheidungen wie die zur Mütterrente oder zur abschlagfreien Rente mit 63, um nur zwei zu nennen, bringen das System in Schieflage. Ich fürchte, dass schon 2022, wenn die Reserven verbraucht sind, der große Schock bei den Beiträgen kommt.

Eine aufsehenerregende Zahl aus Ihrem Gutachten war ja die Prognose, dass in einigen Jahrzehnten mehr als 50 Prozent des Bundeshaushaltes zur Stützung der Rentenkasse ausgegeben werden müssten. Bei Ihrer Rechnung haben Sie aber unterstellt, dass die derzeitigen gesetzlich fixierten Haltelinien bei Beitragssatz und Rentenniveau bestehen bleiben. Ist das realistisch?
Ist es eben nicht – und genau darauf wollten wir mit unserer hypothetischen Berechnung in aller Deutlichkeit hinweisen. Es ist eine politische Illusion zu glauben, dass sich diese Haltelinien angesichts der alternden Gesellschaft durchhalten ließen.

Jetzt wird sogar über eine Rente mit 68 diskutiert. Viele haben andere Pläne – und wollen mit Anfang 60 in Rente. Das kann durchaus klappen, teils sogar ohne Abschlag.
von Niklas Hoyer

Wenn Sie einen alternativen Reformkatalog zur Stabilisierung der gesetzlichen Altersvorsorge schreiben sollten – wie sähe der aus?
Er würde sich an einem einfachen Prinzip ausrichten: dass alle vier Stellschrauben des Systems ein bisschen gedreht werden müssen, damit keine überdreht und niemand überlastet wird.

Das heißt konkret?
Erstens: Den Steuerzuschuss weiter moderat erhöhen, dagegen ist nichts zu sagen. Zweitens: Höhere Sozialbeiträge, auch wenn Peter Altmaier das nicht gerne hört. Drittens: Das Rentenniveau absenken, denn das bedeutet – entgegen aller Legenden – immer noch steigende Kaufkraft. Und viertens: Das Renteneintrittsalter weiter Stück für Stück erhöhen, aber eben nur dann, wenn wir auch länger leben.

Sie haben in Ihrem Gutachten auch einen Vorschlag unterbreitet, der letztlich darauf hinausläuft, das Äquivalenzprinzip aufzuweichen. Einfach gesagt: Wer mehr einzahlt, bekommt auch mehr - und jeder Beitragseuro ist gleich viel wert. Diese Leitsätze gehören bisher zu den unumstößlichen Pfeilern der deutschen Rente.
Es wäre jedoch an der Zeit, darüber zumindest einmal ehrlich zu debattieren. Im internationalen Vergleich ist die deutsche Rente solide, aber wirklich nicht üppig. Das bekommen gerade Kleinverdiener am Ende des Erwerbslebens zu spüren. Unser Vorschlag liefe auf eine Stärkung der kleinen Renten auf Kosten der Bessergestellten hinaus. Richtig, das verträgt sich nicht mit dem Äquivalenzprinzip. Aber es könnte ein Weg sein, um Altersarmut in Zukunft zu verhindern.

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Glauben Sie, dass die kommende Regierung zu allen diesen Maßnahmen die Kraft hat?
Das vermag ich nicht zu sagen. Ich weiß nur: Der Druck der Demografie wird immer stärker.

Mehr zum Thema: Bei den neuen Vorschlägen für eine Rentenreform spielt die Rente mit 68 eigentlich eine Nebenrolle – anders als in der öffentlichen Wahrnehmung. Eine nüchterne Analyse.

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