Report Deutschlands Mindestlohn im EU-Vergleich auf Rang sechs

Wer in Deutschland zum Mindestlohn arbeitet, kann sich 2018 einer Studie zufolge weniger leisten als im Vorjahr. Experten fordern eine Erhöhung.

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Mindestlohn: Deutschland im EU-Vergleich auf Rang sechs Quelle: dpa

Berlin Europas Mindestlöhne steigen, nur der deutsche nicht. Obwohl Deutschland seine Lohnuntergrenze im vergangenen Jahr erhöht hat, können sich Mindestlohn-Bezieher weniger leisten als noch vor einem Jahr, das geht aus einem Bericht der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung hervor.

Nach dem jährlich aktualisierten Mindestlohnbericht des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) rangiert Europas größte Volkswirtschaft, was die Höhe der Lohnuntergrenze angeht, im EU-Vergleich auf Rang sechs, von mittlerweile insgesamt 22 EU-Staaten mit Mindestlohn.

In Luxemburg (11,55 Euro), Frankreich (9,88 Euro), den Niederlanden (9,68 Euro), Irland (9,55 Euro) und Belgien (9,47 Euro) wird mehr gezahlt. Zudem wird der Mindestlohn hierzulande nur alle zwei Jahre angehoben. Seine Empfänger müssen deshalb anders als Beschäftigte in den meisten europäischen Nachbarländern einen leichten Reallohnverlust hinnehmen, der erst bei der nächsten Erhöhung Anfang 2019 wieder ausgeglichen wird.

Insgesamt zeigen sich innerhalb der 22 EU-Staaten immer noch große Unterschiede. Auf die westeuropäische Spitzengruppe folgen Großbritannien und Malta und dann die von der Finanzkrise gebeutelten Staaten Südeuropas. Schlusslichter bilden die ost- und mitteleuropäischen Länder aus den EU-Erweiterungsrunden von 2004 und 2007. Am niedrigsten liegt die Lohnuntergrenze in Litauen (2,45 Euro) und Bulgarien (1,57 Euro).

Wird die unterschiedliche Kaufkraft in den einzelnen Ländern berücksichtigt, reduziert sich das Mindestlohngefälle, wird aber nicht komplett aufgehoben. Obwohl der Mindestlohn in Griechenland mit 3,39 Euro fast einen Euro über dem Niveau in Litauen liegt, kann man sich dafür in beiden Ländern ungefähr das Gleiche kaufen.

Trotz der jüngsten Anhebungen der Lohnuntergrenzen in Spanien und Portugal machten sich in den südeuropäischen Krisenländern immer noch die Folgen der strikten Sparpolitik bemerkbar, heißt es in dem WSI-Bericht.

EU: Realer Mindestlohnanstieg bei 2,8 Prozent

Im Mittel haben die 22 EU-Staaten mit gesetzlichem Mindestlohn die Lohnuntergrenze zum Beginn dieses Jahres um nominal 4,4 Prozent angehoben. Vor allem in den mittel- und osteuropäischen Ländern gab es kräftige Zuwächse um mindestens fünf Prozent, in Rumänien gar um 52 Prozent. Aufgrund der wieder anziehenden Inflation fiel das reale Plus aber geringer aus – im Mittel 2,8 Prozent, nach 5,1 Prozent im Jahr 2017.   

Entscheidend für die Debatte, ob ein Mindestlohn als angemessen gelten kann, ist aber sein Verhältnis zum nationalen Lohngefüge. Nach den jüngsten verfügbaren OECD-Daten für 2016 beträgt der Mindestlohn hierzulande knapp 47 Prozent des mittleren Lohns (Median) eines Vollzeitbeschäftigten. Das ist der Lohn, bei dem genau eine Hälfte der Beschäftigten mehr und die andere weniger verdient. Damit liegt Deutschland im OECD-Vergleich weit hinter Ländern wie Frankreich (60,5 Prozent), Portugal (58,3 Prozent) oder Polen (54,2 Prozent) zurück, aber deutlich vor den Niederlanden (45,3 Prozent), Japan (39,7 Prozent) oder den USA (34,9 Prozent).

Von einem armutsfesten Mindestlohn, wie ihn Olaf Scholz ihn im vergangenen Jahr bereits vergeblich forderte, ist die Bundesrepublik weit entfernt. Die Debatte, ob 8,84 Euro Mindestlohn pro Stunde für ein reiches Land im Wirtschaftsboom angemessen sind, bekommt durch den Bericht der Hans-Böckler-Stiftung jetzt neue Munition.

Nach OECD-Definition liegt die Niedriglohnschwelle bei zwei Dritteln des Medianlohns. Die Grenze von 50 Prozent des Medianlohns gilt als Schwelle zu einem nicht mehr existenzsichernden Armutslohn. „Der deutsche Mindestlohn ist damit bezogen auf die nationale Lohnverteilung weiterhin ein Niedriglohn“, schreiben die Autoren der WSI-Studie, Malte Lübker und Thorsten Schulte.

Ihn auf ein armutsfestes Niveau zu heben, wäre allerdings sehr teuer – und für viele Unternehmen wohl nicht mehr zu verkraften. Arbeitsplatzverluste wären die Folge. Die Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) hat ausgerechnet, dass ein verheirateter Alleinverdiener mit zwei Kindern in Berlin mindestens 15 Euro brutto pro Stunde verdienen muss, wenn er keinen Anspruch mehr auf aufstockende Hartz-IV-Leistungen haben soll. Der heute geltende Mindestlohn müsste also fast verdoppelt werden.

Koalitionsvertrag mit Bekenntnis zu Mindestlöhnen

Druck auf Deutschland könnte allerdings auch von europäischer Seite kommen. In seiner europapolitischen Grundsatzrede hat etwa der französische Präsident Emmanuel Macron darauf hingewiesen, wie wichtig Mindestlöhne für den sozialen Zusammenhalt in Europa sind.

Auch die sogenannte Europäische Säule sozialer Rechte enthält ein Bekenntnis zu angemessenen Mindestlöhnen. Union und SPD haben sich daraufhin in ihrem Koalitionsvertrag zu einem europäischen Rahmen für Mindestlohnregelungen bekannt.

Das bedeutet nicht, dass bald eine einheitliche europäische Lohnuntergrenze eingezogen wird. Doch könnten irgendwann die Bemessungsgrundlagen für den nationalen Mindestlohn auf den Prüfstand gestellt werden. So fordert etwa der Europäische Gewerkschaftsbund, dass Mindestlöhne perspektivisch mindestens bei 60 Prozent des jeweiligen nationalen Medianlohns liegen sollten. Von den EU-Staaten liegt derzeit nur Frankreich über dieser Schwelle.

Die WSI-Forscher Lübker und Schulten hoffen auf Bewegung in Deutschland. Die Politik sollte überlegen „ob die derzeit außerordentlich günstigen ökonomischen Rahmenbedingungen nicht dafür genutzt werden können, um das niedrige deutsche Mindestlohnniveau über die normale Anpassung hinaus auch strukturell zu erhöhen“, schreiben sie. Olaf Scholz wird das gerne lesen.    

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