Kurz vor dem Ende von William Shakespeares „Sommernachstraum“ lösen sich alle Paarprobleme und Eifersüchteleien buchstäblich in Märchenluft auf: „Tanzet in den bunten Zimmern / manchen leichten Ringelreihn!“, dekretiert Elfenkönig Oberon nach drei turtel-turbulenten Tagen und Nächten und: „Jedes dieser Paare sei / Ewiglich im Lieben treu.“ Natürlich ist das blanke Ironie. Die Zuschauer wissen längst, was sie von den Amouren, Liebesrasereien und Selbstzuneigungspirouetten speziell des Oberon zu halten haben. Und sollte der Reigen der Untreue aus Lust und Leidenschaft das Missfallen des Publikums erregt haben, bittet Hofnarr Puck das Publikum in seinen Schlussworten – so möge es die Aufführung doch bitte nur als einen Traum betrachten.
Leider hat das Publikum der Berliner Bundespolitik diese Wahl nicht. Der Sommeralbtraum der beiden Unionsparteien geht nun schon in die vierte Woche – und ein Ende des absurden Regierungstheaters um die Asyl- und Migrationspolitik ist noch lange nicht in Sicht. SPD-Fraktionschefin Andrea Nahles etwa lobt die „Einigung“ mit den Worten: „Es wird keine Gesetzesänderungen geben.“ NRW-Ministerpräsident Armin Laschet sekundiert: Die „Einigung“ sei nichts weiter als eine Bestätigung der „geltenden Rechtslage“. Das bedeutet im Umkehrschluss, die Bundesregierung hat die Absicht, die „geltende Rechtslage“ geltend zu machen – also richtig und wirklich diesmal: Menschen mit Einreiseverbot sollen künftig tatsächlich nicht mehr einreisen!
Schutzsuchende wiederum, die in einem anderen Staat als Deutschland Asyl beantragt haben, nicht aber Schutzsuchende, die bereits in einem anderen Staat registriert wurden, werden auch künftig nur theoretisch an der deutschen Grenze zurückgewiesen, oder sagen wir es genauer: Sie werden von der CSU rhetorisch rausgeschmissen, von der CDU 48 Stunden lang erkennungsdienstlich behandelt und von der SPD sodann ankerzentrisch weiterbearbeitet – wenigstens praktisch gesprochen, denn theoretisch, wie gesagt, werden diese Migranten tatsächlich abgewiesen, dann nämlich, wenn sie praktischerweise an drei ausgesuchten Grenzübergängen in Bayern vorsprechen, um Innenminister Horst Seehofer (CSU) einen Gefallen zu erweisen, und wenn außerdem Italien und Griechenland, rein theoretisch, klar, sich bereiterklären sollten, wirklich zwei, drei der, wie es heißt, täglich fünf, sechs Betroffenen wieder in Empfang zu nehmen…
Die Reaktionen auf die Unions-Einigung im Asylstreit
„Ein Auseinanderbrechen der deutschen Regierung, knapp 100 Tage nach ihrem Amtsantritt, wurde zwar fürs Erste verhindert, aber die Spannungen innerhalb des Regierungslagers sind damit keineswegs aus dem Weg. Dies schadet Deutschland nicht nur politisch, sondern auch wirtschaftlich. Diese Spannungen schädigen die Handlungsfähigkeit der Bundesregierung - und dies gerade in Zeiten, in denen diese viele wichtige Entscheidungen treffen muss. Die Krise schafft eine enorme Unsicherheit für die Wirtschaft, was bereits jetzt zu einem Rückgang der Investitionen und des Wirtschaftswachstums beiträgt. Die Spannungen zwischen den Regierungsparteien schaden nicht nur Deutschland, sondern auch Europa, da die Glaubwürdigkeit der deutschen Regierung und der Bundeskanzlerin dadurch beschädigt wird“, so Marcel Fratzscher, Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin).
„Die große Koalition muss endlich aus dem Krisenmodus der vergangenen Wochen herausfinden und ihrer Verantwortung für das Land gerecht werden. Die Flüchtlingsfrage ist bei weitem nicht das einzige Problem“, sagt Mario Ohoven, Präsident des Bundesverbands Mittelständischer Wirtschaft (BVMW). „Denn: Die Konjunktur trübt sich bedenklich ein, bei der Digitalisierung liegen wir deutlich zurück, der Fachkräftemangel kostet Wachstum und die aufkommenden Handelskonflikte bedrohen unsere Exporte. Auch auf europäischer Ebene stehen große Aufgaben an, wie der Brexit. Angesichts dieser Herausforderungen braucht Deutschland dringend eine handlungsfähige, stabile Regierung.“
„Aus wirtschaftlicher Sicht ist es zunächst erfreulich, dass die Regierungskrise überwunden scheint. Doch es bleibt erschreckend, wie wenig an inhaltlicher Substanz dazu gehört, eine derartige Krise auszulösen. All dies sind Menetekel eines Verfalls des politischen Systems, wie wir es kennen. Insofern bleibt die Unsicherheit trotz lautstarker Kompromissverkündung letztlich bestehen. Deutschland und Europa gehen ungewissen Zeiten entgegen“, sagte Gustav Horn, Leiter des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung der Hans-Böckler-Stiftung.
„Eine europäisch koordinierte Asylpolitik hat ökonomische Vorteile. Im Konflikt um die deutsche Asylpolitik stand die Frage im Mittelpunkt der politischen Debatte, ob das Land die Ziele seiner Asylpolitik auch im nationalen Alleingang erreichen könnte. Abgesehen von den Kosten von Grenzkontrollen im Binnenmarkt, trägt eine funktionierende europäische Flüchtlingsaufnahme zur Stabilisierung überlasteter Staaten wie Libanon und Jordanien bei. Diese Stabilisierung ist auch von erheblichem ökonomischen Nutzen für Europa. Hinzu kommt, dass ein europäischer Ansatz den EU-Mitgliedstaaten eine Versicherung gegen hohe Kosten zukünftiger neuer Flüchtlingskrisen bieten kann“, meint Friedrich Heinemann, Ökonom am Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) in Mannheim.
Der Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbunds, Reiner Hoffmann, kritisiert die von der Union angestrebten Transitzentren. Diese würden „kaum die Lösung sein“, sagt er dem Wirtschaftsnachrichtenportal Business Insider. „Es ist dringend notwendig, dass die Fluchtursachen endlich wirksam bekämpft werden.“
„Ich begrüße die Einigung von CDU und CSU ausdrücklich und hoffe, dass die Koalition dies jetzt aber auch sehr zügig mit der erforderlichen Rechtssicherheit umsetzt“, sagte Gewerkschaftschef Ernst Walter dem „Handelsblatt“. Er sei außerdem „sehr froh“ darüber, dass CSU-Chef Horst Seehofer „Haltung gezeigt hat, nicht zurückgetreten ist und weiter unser Innenminister bleibt“.
Die Gewerkschaft der Polizei (GdP) bewertete die geplante Einrichtung von Transitzentren für Flüchtlinge an der deutsch-österreichischen Grenze skeptisch. „Das ist ein alter Hut“, sagte der stellvertretende Gewerkschaftsvorsitzende Jörg Radek der „Mitteldeutschen Zeitung“. Auch beschränke sich das Vorhaben nur auf die deutsch-österreichische Grenze. Radek fügte hinzu: „Meine Befürchtung ist, dass der Grenzschutz zur Symbolpolitik missbraucht wird. Das gilt auch für Transitzentren.“
Die SPD zeigt sich offen für den Einigungsvorschlag der Union, sieht laut Fraktionschefin Andrea Nahles aber noch „erheblichen Beratungsbedarf“. Die von der Union geforderten Transitzentren für Flüchtlinge an der deutsch-österreichischen Grenze seien „nicht derselbe Sachverhalt, nicht dieselbe Gruppe“ wie auf der Höhe des Flüchtlingszuzugs 2015/2016, sagt Nahles nach einer Fraktionssitzung in Berlin. „Deshalb lehnen wir den Begriff auch ab.“
Die von CDU und CSU vereinbarten Regeln läuten aus Sicht der AfD keine Trendwende in der Asylpolitik ein. Parteichef Jörg Meuthen sagte der Deutschen Presse-Agentur, Seehofer habe von der CDU „nur ungedeckte Schecks erhalten“. Deutschland werde sich auch in Zukunft schwer damit tun, Asylbewerber, die einmal die Grenze passiert haben, wieder außer Landes zu bringen. Auch durch die Unterbringung in grenznahen Transitzentren von Menschen, die eigentlich in einem anderen EU-Land ihr Asylverfahren durchlaufen müssten, werde dieses grundlegende Problem nicht gelöst. Er könne sich zudem nicht vorstellen, dass die österreichische Regierung eine Zurückweisung von Ausländern an der Grenze akzeptieren werde, sagte Meuthen.
Die Grünen haben den Kompromiss massiv kritisiert. Der Vorsitzende Robert Habeck sieht darin einen Aufguss alter Ideen: „CDU und CSU haben einen Vorschlag von 2015 rausgekramt und verkaufen das als Einigung“, sagte er der Deutschen Presse-Agentur. „Diesen alten Kram kippen sie nun der SPD vor die Füße und sagen: Super, das ist es jetzt. Dabei hat die SPD Transitzonen explizit als Massenlager abgelehnt. Arme SPD.“ Nach dem „Theater“ der vergangenen Wochen, mit dem Deutschland und Europa destabilisiert worden seien, „ist das einfach hanebüchen.“ Habecks Amtskollegin auf dem Parteivorsitz, Annalena Baerbock, nannte in der Nacht zu Dienstag die geplanten Transitzentren „Internierungslager“. Die Union „verabschiedet sich vom Wertekompass unseres Landes“, schrieb sie im Internetdienst Twitter. „Einen Innenminister zu halten, der sein Amt für CSU-Rechtsruck missbraucht, ist kaum zu ertragen.“
Von der Linkspartei kommt Kritik: „Der Machtkampf in der Union ist an Peinlichkeit kaum zu überbieten“, erklären die Parteivorsitzenden Katja Kipping und Bernd Riexinger. „Nach dem Rücktritt vom Rücktritt belohnt Bundeskanzlerin Merkel das Schmierentheater der CSU mit weiteren Zugeständnissen und rückt damit die Politik weiter nach rechts.“
Ob’s der CSU im Landtagswahlkampf helfen wird? Wenig wahrscheinlich. Hätte sie von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, sich als eifrige Partei der Ordnung und des Rechts zu präsentieren – vielleicht. Stattdessen hat die Seehofer-Söder-Dobrindt-CSU in den vergangenen Wochen eifernd rhetorische Registerwechsel vollzogen, das Thema Migrationspolitik mit rechtspopulistischen Begriffen („Asyltourismus“) vergiftet und die blau-weiße „Heimat“ kreuzritterlich abgegrenzt gegen einen von ihr niqabdämonisierten Islam. Die jüngsten Umfragen sind daher nur auf den ersten Blick widersprüchlich. Einerseits soll die CSU nach dem „Asylstreit“ knapp auf gut 42 Prozent zugelegt haben (Civey). Andererseits sind 78 Prozent der Deutschen unzufrieden mit der Arbeit der Bundesregierung – vor allem mit der von Horst Seehofer. Wieder andererseits begrüßen mit 55 Prozent mehr als die Hälfte der Deutschen, dass jemand offen den Kurs der Kanzlerin in der Asyl- und Flüchtlingspolitik kritisiert (Infratest Dimap).
Das alles lässt den Schluss zu: Eine Mehrheit der Deutschen spricht sich für die Normalität zügiger Asylverfahren und einer geordneten Einwanderungspolitik aus – aber gegen alle Versuche, das „Volk“ eingrenzend, also als demos, als Staatsvolk auf der Basis seiner Gesetzbücher, zu diskreditieren; zugunsten eines ausgrenzenden, ethnisch-kulturell verdeutschen, stammesgemeinschaftlich akzentuierten Begriffs von „Volk“, der angeblich so etwas wie „Identität“ stiften soll.
Vor allem aber hat die CSU in den vergangenen Wochen gezeigt, dass sie als (Mit-)Regierungspartei in Berlin und München selbst am Abbau von politischer Legitimität arbeitet, den sie Kanzlerin Merkel seit mindestens drei Jahren (aus recht guten Gründen) pausenlos vorwirft. Um das zu verstehen, muss man wissen, dass Legitmationsprobleme in modernen Demokratien immer dann entstehen, wenn Selbstanspruch der Politik und Wirklichkeit weit auseinander klaffen, konkret: wenn drängende Probleme nicht gelöst werden (Output-Legitimationsproblem), wenn politische Prozesse undurchsichtig sind, nicht hinreichend verständlich gemacht werden (Throughput-Legitimationsproblem) – und wenn viele Bürger den Eindruck haben, ihr Einfluss auf „alternativlose“ Entscheidungen sei gering, ihrem Handeln in „systemischen“ Verhältnissen seien enge Grenzen gesetzt (Input-Legitimationsproblem).
Auf den so genannten „Asylstreit“ bezogen heißt das: Die Regierungspartei CSU hat dem Wahlvolk in diesen Wochen angezeigt, a) dass drängende Probleme drei Jahre lang nicht gelöst wurden, die b) aktuell nicht mehr drängend sind und die sie vor allem c) nicht ohne Hilfe anderer Staaten lösen kann. Sie hat eine sachliche Diskussion durch die wochenlange Numinosierung des „Masterplans“ verhindert, die Öffentlichkeit geradezu abgeschnitten von der Möglichkeit eines rationalen Diskurses. Und sie hat eben damit den Populisten in die Hände gespielt, deren Geschäft bekanntlich darauf beruht, die Abgehobenheit einer machtverliebten Elite im „Altparteien-System“ gegen die „wahren Interessen“ der Bürger auszuspielen: Wann zuletzt erschien das sprichwörtliche „Raumschiff Berlin“ den konkreten Alltagsproblemen der Menschen (bezahlbares Wohnen, Pflegekosten) so enthoben? Wann zuletzt hat eine Regierungspartei so aggressiv Ängste und Irrationalitäten bewirtschaftet, so offensiv die Oppositionsrolle eingenommen?
Anders gesagt: Neben der AfD dürften wohl allein noch Politikwissenschaftler die derzeitige Vorstellung der CSU begrüßen: Bisher hat in der Bundesrepublik noch keine Regierungspartei versucht, sich Rechtspopulisten mit einem Rechtspopulismus vom Leib zu halten, der im Namen der Legitimität des demokratischen Rechtsstaats am Abbau demokratischer Legitimität arbeitet. Denn eines ist klar: Abzüglich der rechtsradikalen Widerlichkeiten der AfD („Denkmal der Schande“, „Vogelschiss“) bietet sich die Söder-CSU, auch wirtschaftspolitisch (Europolitik, Griechenland, „Bayern first“) längst mehr als „Alternative“ zu ihrer Bundespolitik denn als Vertreterin ihrer Bundespolitik an – und steht der AfD längst näher als ihrer so genannten Schwesterpartei.