Zu den wunderbarsten Richard-Wagner-Halbstunden gehört der Auftakt des dritten Aktes des „Tannhäuser“: Elisabeth liegt „vor dem Muttergottesbilde betend ausgestreckt“, der gute Wolfram steigt „einsam aus wald’ger Höh“ herab - und ein Chor von heimkehrenden Pilgern stimmt demutsvoll und flüsterleise eine unendlich schöne, „fromme Weise“ an: „Beglückt darf nun dich, o Heimat, ich schauen / und grüßen froh deine lieblichen Auen“… So romantisch, empfindsam, seelenvoll (und gesamtkunstwerklich umfassend) wie Wagner hat vielleicht nie wieder jemand ausgedrückt, was man in Deutschland heute landläufig und idealerweise unter „Heimat“ versteht: ein ins Transzendente reichendes Gefühl innerer Verbundenheit.
Einem solchen Heimatgefühl der Tiefe und Weite ist alles Flache und Enge naturgemäß fremd - womit mit Blick auf die politischen Prosafassungen des Heimatbegriffs eigentlich schon alles Nötige gesagt wäre. Allein die professionellen Demokraten in Berlin wollen sich angesichts des Wahlerfolgs der „Alternative für Deutschland“ partout nicht kurz fassen.
Sie reagieren so angsthaft und verschreckt auf den inflationären Gebrauch, den AfD-Spitzenpolitiker Alexander Gauland von scheinidentitären Personalpronomina macht (Wir werden uns unser Land und unser Volk zurück holen“), dass „Heimat“ in Deutschland nun wieder Karriere zu machen droht als weltanschaulicher Kampfbegriff mit Dekretfunktion und Bekenntnischarakter.
Der gutmeinende Bundespräsident zum Beispiel, Frank-Walter Steinmeier (SPD), hat am Tag der deutschen Einheit gesagt, man dürfe die „Sehnsucht nach Heimat - nach Sicherheit, nach Entschleunigung, nach Zusammenhalt und Anerkennung“ nicht den Nationalisten überlassen - und ist damit Gauland vollständig auf den Leim gegangen. Wie kommt Steinmeier bloß darauf, den Begriff der „Heimat“ im Sinne Richard Wagners all seiner schillernden, emotionalen Bedeutungsfülle zu berauben, um ihn im Sinne Alexander Gaulands seiner prosaisch-politischen Bearbeitbarkeit und Ausbeutung anheimzustellen? Warum zwingt Steinmeier zusammen, was nicht zusammen gehört: einerseits das affektive Verlangen nach Geborgenheit und Resonanz, das sich an Schützenfeste oder Schiller, an Gebirgsbäche oder Gottesdienste knüpfen kann - und andererseits die nüchtern anzugehende Aufgabe der Politik, die (materiellen) Voraussetzungen für ein soziales Miteinander von 80 Millionen Deutschen zu schaffen, die je ihre eigenen Vorstellungen von Heimat haben?
Es ist daher auch kein Zufall, dass Steinmeier in derselben Rede vor „dem Blödsinn von Blut und Boden“ warnt - gerade so, als seien Verwandtschaft und territoriale Herkunft, nur weil die Nationalsozialisten sich beides ideologisch anverwandelt haben, keine wichtigen Quellen gelingender Identitätsbildung. Statt dessen hätte Steinmeier sagen müssen, dass er sich jede politische Inanspruchnahme und Ausdeutung dessen, was „Heimat“ sein zu sollen hat, verbittet - zumal als Präsident einer Nation, die die Grenzen dessen, was sie alles beheimaten soll, im 20. Jahrhundert buchstäblich sehr weit ausgelegt hat. Steinmeier hätte außerdem sagen können, dass „Heimat“ sich paradoxerweise nicht fixieren lässt, dass „Heimat“ definitionsgemäß in Heimatlosigkeit wurzelt, genauer: in der Unbestimmbarkeit einer fluiden Identität, die sich einer Vielzahl von Herkünften, Prägungen, Traditionen, Begegungen, Erfahrungen, Reisen - und Erinnerungen - verdankt.