Tauchsieder
Quelle: AP

Regierungskrise. Wirtschaftskrise. Wertekrise.

Und plötzlich ist sie da, eine „europäische Lösung“? Von wegen. Die EU mag neuerdings wissen, was sie nicht will: Migranten. Aber was sie will, das weiß sie noch lange nicht.

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Der überraschenderweise immer noch nicht notariell beglaubigte Chefhistoriker Deutschlands, Heinrich August Winkler („Der lange Weg nach Westen“) hat einmal gesagt: „Seit den westlichen Demokratien die Herausforderung in Gestalt des Kommunismus abhandengekommen ist, fehlt ihnen den Ansporn, über die eigenen normativen Grundlagen nachzudenken.“ Das ist klug beobachtet und leider richtig. Deutschland und Europa stehen auf gegen Unterdrückung und Gewalt, Tyrannei und Machtanmaßung – und ganz sicher bald auch felsenfest und festungsstark gegen „illegale Migranten“. Aber wissen Deutschland und Europa auch noch, wofür sie eigentlich einstehen?

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) weiß es offenbar nicht, dazu habe ich vorige Woche in einer Bilanz ihrer, nunja: Regierungszeit alles Nötige gesagt. Zur Erinnerung: Merkel hat sich den Deutschen 2005 als stramm durchregierende Reformalternative präsentiert – und sich dann nach einem erschreckend knappen Wahlsieg entschlossen, ihres Amtes nur noch nach dem demoskopischen Stand der Dinge zu walten. Sie hat das wirtschaftlich prosperierende Land dadurch in zwölf Jahren politisch demobilisiert, es normativ entkräftet, den diskursiven Raum mit „Alternativlosigkeiten“ und Durchwurschteleien geschlossen. Hauptsache ziel- und richtungslos. 

Und zwar so richtungslos, dass man die gegenwärtige Regierungskrise in Berlin nur verstehen kann, wenn man sie als verzweifelte Antwort auf eine multiple Orientierungskrise begreift, genauer: als eine Krise des liberalen Demokratie-, Kultur- und Wirtschaftsmodells westlicher Prägung. Mit Winkler gesprochen: Weil Merkel der deutschen Regierungspolitik allen Ehrgeiz abtrainiert hat, über die eigenen normativen Grundlagen nachzudenken, steht Berlin heute erschreckend sprach-, rat- und hilflos einer dezisionistischen, faktenschaffenden Politik gegenüber. Einer Politik, wie sie in nationaldespotischer Weise etwa Russland, China und die Türkei, in nationalautoritärer Weise die USA, aber auch Polen, Ungarn und Österreich und in postnational-deliberativer Weise Frankeichs Staatspräsident Emmanuel Macron praktizieren.

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Beispiel China. Angela Merkel hat das Land als Kanzlerin seit 2006 inzwischen elf Mal bereist, sie bewundert den Ehrgeiz des Landes und die Affirmationsbereitschaft, mit der viele Chinesen den (technologischen) Fortschritt umarmen. Sie dient sich der deutschen Wirtschaft, vor allem Managern in der Autoindustrie und im Maschinenbau, dabei gerne als eine Art politisches Assistenzsystem an – und ermahnt die deutschen Arbeitnehmer auf jeder zweiten Cebit, die „ungeahnten Erfolge“ der Chinesen zur Kenntnis zu nehmen, sich dem verschärften Innovationswettbewerb zu stellen.

Dass deutsche Firmen sich bei ihren China-Engagements in ungünstige Joint Ventures verwickeln und technologisch abzapfen lassen; dass die deutsche Politik den Chinesen faire Wettbewerbsbedingungen offerierte, einen freien Marktzugang gewährt und dabei duldet, wie Peking die heimische Wirtschaft währungs- und industriepolitisch schützt und stützt – das allerdings ist längst nicht mehr der einzige Preis für die Erfolge der deutschen Exportindustrie in den vergangenen zwei Jahrzehnten. 

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Denn dem naiven, wertblinden, rein wirtschaftsopportunen Verhalten gegenüber China entspricht leider auch eine Vernachlässigung Japans und seiner Demokratie, darauf hat Frank Rövekamp, Professor für Japanische Wirtschaft und Politik in Ludwigshafen, vor einigen Tagen in der FAZ hingewiesen: Mit „einiger Fassungslosigkeit“ konstatiere der japanische Verfasser eines Buches mit dem Titel „Das Deutschlandrisiko“, die große Abhängigkeit der deutschen Exportindustrie vom chinesischen Markt und die „Willfährigkeit der deutschen Politik gegenüber dem autoritären Regime“. Und tatsächlich: Wann zuletzt hat man die Kanzlerin, hat man deutsche Politiker Japan und den Wert seiner Demokratie in Fernost loben hören? Statt dessen habe Merkel bei einer ihrer Stippvisiten 2015 „nichts Besseres zu tun gehabt, als die japanische Nuklearpolitik zu kritisieren“. 

Beispiel USA: Angela Merkel hat bereits vor ihrer Kanzlerschaft die große Chance vertan, Europa sicherheitspolitisch neu zu positionieren. Sie wäre 2002 mit George Bush blindlings in den Irak-Krieg gezogen, weil sie die transatlantischen Beziehungen für unverbrüchlich hielt, auf die USA als Schutzmacht und Schirmherrin des Kontinents vertraute. Donald Trump hat sie nun eines Schlechteren belehrt – und Deutschland steht in Europa plötzlich peinlich nackt da: als Nation, die lieber Austeritätsdebatten führt und die USA wegen ihrer Schuldenpolitik schulmeistert, anstatt endlich, wie versprochen, die Verteidigungsausgaben zu erhöhen und wenigstens eine paar flugfähige Militärmaschinen zu unterhalten. Die schlimme Wahrheit ist: Ohne den Schutz der USA und der von ihr meistfinanzierten NATO würden längst auch die baltischen EU-Staaten um ihre (territoriale) Souveränität fürchten.

Der Westen hat 1989 nicht „gesiegt“

Es ist in diesem Zusammenhang beinahe grotesk, dass Deutschland sich europapolitisch nicht längst stärker engagiert und die EU im Sinne Macrons als Wertegemeinschaft positioniert – in scharfer Abgrenzung auch gegen eine neoprotektionistische USA. Freilich, dazu gehörte eine postnational-europäische Wirtschaftspolitik, genauer: eine offene Diskussion über den Überschuss in der deutschen Leistungsbilanz. Er mag  den Deutschen immer noch als „Ausweis nationalen Erfolges“ erscheinen, ist aber zugleich und vor allem ein Ausweis „multilateralen Scheiterns“, schreibt der linke Ökonom Heiner Flassbeck in einem Essay für die WirtschaftsWoche (Printausgabe 25), und ist sich darin herzlich einig mit dem liberalen Ökonomen Karl-Heinz Paqué.

Der schreibt in seiner Replik (Printausgabe 26): „Es darf nicht verwundern“, dass der Leistungsbilanzüberschuss „bei den Nachbarn in der Eurozone auf Kritik stößt“. Zumal der Überschuss nicht allein das Ergebnis einer besonders starken Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie sei, so Paqué, sondern sich „auch einer allzu konservativen Finanzpolitik im Binnenmarkt“ verdanke. Uneins sind sich die beiden Ökonomen lediglich darin, wie der Konsum angekurbelt und die Überschüsse abgebaut werden sollen. Flassbeck empfiehlt staatliche Ausgabenprogramme. Paqué dagegen hält „kräftige Steuersenkungen“ für geboten, „um die gesamtwirtschaftliche Nachfrage durch Investitionen und Konsum zu erhöhen“.

Fazit: Regierungskrise, Wertekrise, Wirtschaftskrise – Antworten auf die eine Krise sind heute ohne Antworten auf die anderen Krisen unvollständig. Eine „Politik des Westens“ muss künftig versuchen, seinen wirtschaftlichen Interessen und politischen Werte in eins zu denken – und selbstkritisch mit sich ins Gericht gehen: Der Westen hat 1989 nicht „gesiegt“. Sondern sein Kapitalismus ist zunehmend dysfunktional geworden. Er hat die Prinzipien der Marktwirtschaft (Wettbewerb, Machtdiffusion, Haftungsprinzip) oft auf den Kopf gestellt, Ungleichheit produziert, die Macht globaler Banken und Konzerne protegiert – und hat sich buchstäblich über die Interessen vieler Menschen in den Industriestaaten hinweggesetzt.

„Der Staat und die Unternehmen“ müssen daher wieder „deutlich machen, dass sie die Menschen im Strukturwandel nicht alleine lassen“, schreibt Paqué. Und dass der demokratische „Wandel durch Handel“, die Lieblings-Leerformel der internationalen Geschäftswelt, allzu oft ausgeblieben ist. Dass sich autoritäre Staatskapitalismen zunehmend selbstbewusst als politökonomische Konkurrenzprodukte anbieten – als Konkurrenzprodukte, die wir politisch nicht einfach in Kauf nehmen sollten. 

Das Nachsehen hat dabei nämlich der Liberalismus des Westens, nicht der globale Konzern. Der streut das Eigentum seiner Aktionäre auch in Katar, Kuwait, Abu Dhabi. Oder in China. Wenn aber das Kapital besonders gern dorthin geht, wo entweder die Steuersätze oder die Löhne oder die Sozialstandards oder die Umweltauflagen oder aber alles zugleich niedrig sind, dann stützt der Markt nicht mehr die Funktionalität liberaler Ordnungen, sondern dann akzeptiert er die Bedingungen, die er vorfindet – um den Preis seiner Akzeptanz.

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Es ist daher keineswegs per se applauswürdig, dass arabische Staatsfonds bei Daimler, VW oder der Deutschen Bank engagiert sind. Dass chinesische Unternehmen in Deutschland investieren. Dass jedes dritte oder vierte deutsche Auto heute in China verkauft wird. Wer weiß, wie engagiert die deutsche Europapolitik ausfiele, wenn die deutsche Wirtschaft nicht wie ein globaler Solitär agieren würde, deren Wohlergehen viel stärker vom Erfolg auf Absatzmärkten in Übersee abhängt als es bei den übrigen europäischen Volkswirtschaften der Fall ist?

Was der Westen, was Europa derzeit dringend braucht, ist interrogative Kraft. Seine Grundlagen – Liberalismus, Marktwirtschaft, Demokratie, Sozialstaatsverfassung – sind nach wie vor anziehend: Fast alle Menschen weltweit zieht es nach Europa; fast alle Staaten weltweit meinen sich (und sei es abwehrend) auf seine „westlichen Werte“ beziehen zu müssen. Sich infrage stellen hieße dabei: sich auf seine Grundlagen besinnen. Und wieder bejahen lernen. Zur Lösung der Regierungskrise. Der Wirtschaftskrise. Der Wertekrise. 

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