Tauchsieder
Quelle: dpa

Zurück zur Zuversicht!

Statt eines Jahresrückblicks: 2019 war ein Scharnierjahr. Die große Selbsterzählung der westlichen Welt hat sich verbraucht, der Fortschritt taugt nicht mehr zur Utopie – und die Zukunft bedrängt uns nur noch. So kann es 2020 nicht weitergehen.

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Gut möglich, dass Historiker eines Tages 2019 als Scharnierjahr bezeichnen werden – als Datum eines längerfristigen Übergangs, in dem die Vergangenheit noch nicht gestorben war und die Zukunft noch nicht begonnen hatte: als Referenz für einen Zeitraum, in dem sich ein fundamentaler Paradigmenwechsel vollzog, ein Umschlag in der Art und Weise, wie wir auf die Welt blicken – wie wir sie denken. Darauf deutet allein schon das ideenpolitische Interesse hin, das neuerdings wieder Karl Polanyi und seinem Hauptwerk „The Great Transformation“ (1944) entgegengebracht wird. Aber darauf weisen auch einige realpolitische Entwicklungen und Diskussionen in diesem Jahr hin, die unsere Gesellschaft in den Zwanzigerjahren prägen werden.

Es ist sehr wahrscheinlich, dass wir uns im nächsten Dezennium stark und in analogischer Absicht mit den Zwanzigerjahren des vorigen Jahrhunderts beschäftigen werden. Damals wie heute spürten die Menschen den Schwellencharakter der Zeit: „Die alte Welt liegt im Sterben, die neue ist noch nicht geboren“, so hat es der marxistische Philosoph und Revolutionspädagoge Antonio Gramcsi einmal prägnant auf den Begriff gebracht, und: „Es ist die Zeit der Monster.“

Das Jahr 2019 hat zum Beispiel offenbart, was sich hinter dem schleichenden „Tod der Volksparteien“ verbirgt, der empirisch leicht belegbar, aber analytisch recht schwer zu fassen ist. Soziologen sprechen mit Blick auf den Befund gern von einer Auflösung der klassischen Milieus und von der Individualisierung, Singularisierung, Globalisierung und Beschleunigung der Gesellschaft, die den Wert des Kollektiven, Dauernden, Eingewurzelten und Verbindlichen schmälern; auch von einer Pluralisierung und Zersplitterung der Sinn-, Medien- und Konsumangebote, die das Projekthafte gegenüber dem Bekenntnishaften, das Fluide gegenüber dem Haltungsstarken, das Flexible gegenüber dem Entschiedenen (der Parteien, Vereine, Kirchen etc.) begünstigen – und die „die Öffentlichkeit“ zugunsten von „Echokammern“ sprengen, in denen sich Menschen gleicher Gesinnung in ihren (Vor-)Urteilen bestätigen und Meinungen sich nicht mehr bewähren müssen.

Entscheidend scheint mir aber ein anderer Punkt: Die „großen Erzählungen“ der Christ- und Sozialdemokratie zünden nicht mehr.

Beide politische Stilrichtungen verfügten über akklamationsfähige Inhalte, beide hatten den Menschen lange etwas Bejahbares anzubieten, eine Projektionsfläche – eine Identität. Die Konservativen schöpften aus dem reichen Reservoir der (nationalen) Kultur und Geschichte. Sie bauten auf Bewährtes, hüteten die Tradition und pflegten die alten Werte, sie achteten die Erfahrung, hegten überlieferte Ordnungen und vertrauten auf die zivilisierende Kraft gewachsener Institutionen.

Noch besser lagen die Dinge bei den Sozialdemokraten. Die hatten immer die Zukunft, den „Fortschritt“ und das große Ganze im Blick: die Gesellschaft, den Staat und den Weltfrieden. Sie erhoben Utopia zum allgemeinen Menschheitsziel und dienten sich uns als Navigatoren auf dem Weg dorthin an; sie eroberten täglich eine bessere Welt und eine schönere Zeit, immer unterwegs für die gute Sache, angetrieben von der erneuerbarsten aller politischen Energien, der „Sozialen Gerechtigkeit“.

Und heute? Heute sind „Vergangenheit“ und „Zukunft“ als Ressourcen der Zuversicht restlos verbraucht, oder sagen wir vorsichtig: Jene ist nach Wirtschaftskrisen und Weltkriegen, nach Mao, Stalin und Hitler nur noch sehr bedingt belehnbar, während diese uns in Gestalt des „Klimanotstands“ als Hypothek begegnet – als Dystopie, die uns keine „unbegrenzten Handlungsmöglichkeiten“ mehr eröffnet, sondern allerhand Einschränkungen auferlegt.

Um den Paradigmenwechsel zu ermessen, müssen wir den Blick zurückwerfen auf ein anderes großes Scharnierjahr, auf 1973, auf das Jahr der Ölkrise, der „Grenzen des Wachstums“ und des Abschieds vom Goldstandard. Die Koinzidenz der drei Ereignisse ist keineswegs zufällig: Die (westliche) Welt macht nach den Wirtschaftswunderjahren der „Trente glorieuses“ die Erfahrung, dass ihre materiellen Ressourcen begrenzt sind – und entgrenzt zugleich die Kräfte des Geldes, um sich die steigenden Nebenkosten des Wohlstands, die zunehmenden Wachstumsschmerzen zu ersparen. Damals verpflichten sich Finanzmärkte, Notenbanken und Staaten, ein Wachstum aufrechtzuerhalten, das mit realwirtschaftlichen Mitteln nicht mehr aufrechtzuerhalten ist. Man hebt die funktionale Trennung von Staat und Markt auf und ist zuversichtlich, im Zusammenspiel von Prognose und Planung die Zukunft in den Griff zu bekommen („Globalsteuerung“). Die Notenbanken erfüllen ihre Aufgabe, indem sie unendliche Mengen Geld schöpfen. Die Finanzmärkte, indem sie Kapital nicht mehr um Güter kreisen lassen, sondern um sich selbst. Und die Staaten, indem sie Notenbanken und Finanzmärkten die Lizenz zur fortwährenden Geldproduktion erteilen, um ihren sozialpolitisch verwöhnten Bevölkerungen die Folgen der Wachstumskrise zu ersparen.

Kurzum: Man setzt damals auf Kredite, die ein Stück Zukunft ins Heute zaubern – und verzehrt im Namen des Wohlstands seine Substanz, im Namen der Erhaltung eines Lebensstils seine Grundlagen.

Heute, spätestens seit der Finanzkrise 2008, wissen wir, dass Kredite keine Zukunft mehr herbeizaubern, sondern nur noch eine Gegenwart abstottern, die ihre künftigen Potenziale bereits verbraucht hat. Und heute, spätestens seit der Popularisierung und Dramatisierung der Klimaforschung durch Greta Thunberg 2019, wissen wir, dass die Logik der Entgrenzung nicht nur das globale Geldsystem destabilisiert, sondern auch das planetarische Ökosystem.

Schaden genommen hat in der Zwischenzeit vor allem der Glaube an Handlungsfähigkeit des Menschen: Die Zukunft sah 1973 noch anders aus als heute. Sie verwandelte sich damals „von einem Gegenstand der Erwartung und Hoffnung zu einem Gegenstand der Sorge und damit zugleich auch der Vorsorge“, so die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann – wie etwa das Werk von Hans Jonas, erschienen vor genau 40 Jahren („Das Prinzip Verantwortung“) belegt.

Das heißt: Die Zukunft war bereits damals schwarz, vielleicht sogar schwärzer als heute, aber das Schwarz offenbarte sich uns noch nicht als gewisses Schicksal, sondern als Mahnung: „Sorge dich – und lebe, damit es wieder hell wird!“ Das ist heute anders. Heute blickt alle Zukunft von einem scheinbar datengesicherten Übermorgen aus zurück ins Heute, und degradiert die Gegenwart zum unruhigen Ort ultimativer Herausforderungen: „Du sorgst Dich nicht – das ist Dein Untergang!“ Wenn aber die Zukunft uns nur noch als empirisch gesicherter Ausgangspunkt für künftige Katastrophenszenarien begegnet, als mathematisch berechnete Gefahr, auf die umgehend zu antworten ist – dann diktiert diese Zukunft die Gegenwart und setzt die Politik herab zur angewandten Zukunftsforschung. Es wird suggeriert, der Politik bleibe nichts mehr zu gestalten, seit eine gesicherte Zukunft ihre Schatten auf die Gegenwart wirft.

Ganz gleich übrigens, ob als Apokalypse oder medizinisch-technische Erlösungsfantasie. Denn in einem sind sich der besorgte Klimaaktivist, der religiöse Fanatiker, der Rechtspopulist und der Valley-selige Fortschrittsoptimist seltsam einig. Sie imaginieren die westliche Zivilisation von ihrem Ende, von ihrer Abschaffung, von ihrer Auflösung her. Und man weiß wirklich nicht, welches Ende man deprimierender finden soll: das des Klimatodes, das des Ideologie-Triumphes oder das eines ewigen Lebens als Mensch-Maschine-Schnittstelle.

Wenn aber die Zukunft nur noch das ist, was die Menschen unbedingt glauben (!) tun zu müssen, um sie zu verhindern oder zu realisieren, verliert sie ihren Sinnhorizont als offener Zeitraum, als Handlungsfeld des Menschenmöglichen und Menschengemäßen, dann kolonialisiert sie unsere Gegenwart als Gewissheit, kennt keine Weite, keine Sehnsucht mehr und damit – keine Zukunft.

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