Turnhallen werden wieder für den Schulsport geöffnet, Messehallen geräumt, Wohncontainer abgebaut, Kasernen an die Truppe zurückgegeben: Wegen des starken Rückgangs des Flüchtlingszuzugs sollen die Notunterkünfte in vielen Bundesländern bald endgültig geschlossen werden. Auch die Zahl der regulären Erstaufnahmeplätze wird weiter reduziert, wie eine Umfrage der Deutschen Presse-Agentur ergab. Zugleich steigt aber der Bedarf an normalem Wohnraum für Flüchtlinge - was die Kommunen vor große Herausforderungen stellt.
Nach Schließung der Balkanroute ist die Zahl der neuen Asylsuchenden in Deutschland drastisch gesunken. Von Anfang Januar bis Ende Juni wurden nach Angaben von Innenminister Thomas de Maizière (CDU) nur noch 222 264 Neuankömmlinge registriert. Im gesamten vergangenen Jahr waren es bundesweit 1,1 Millionen, allein im November 2015, dem Höhepunkt der Flüchtlingsbewegung, wurden mehr als 200.000 gezählt.
Die Folge: Immer mehr Erstaufnahmeeinrichtungen stehen leer, viele Notunterkünfte sind bereits abgebaut. Beispiel Nordrhein-Westfalen: Hier gab es im Dezember noch 293 Unterkünfte mit über 82.000 Plätzen, oft wurden Turnhallen zu Schlafsälen umfunktioniert. Heute gibt es noch 137 Unterkünfte mit rund 58.000 Plätzen, mit einer Ausnahme stehen alle vom Land genutzten Turnhallen wieder für den Schul- und Vereinssport zur Verfügung. Die aktuell noch 96 Notunterkünfte sollen bis 2017 geschlossen oder zu regulären Einrichtungen umgebaut werden.
Asylanträge nach Bundesländern 2017
Nirgendwo sonst wurden so vielen Asylanträge gestellt wie in Nordrhein-Westfalen. In der ersten Jahreshälfte 2017 waren es bisher 32.122 Menschen.
Hinweis: Alle Daten beziehen sich auf Erst- und Folgeanträge in den Monaten Januar bis Juni 2017.
Quelle: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge / Statista
Stand: August 2017
12.921 Menschen haben in der ersten Hälfte des Jahres 2017 in Bayern einen Asylantrag gestellt.
In Baden-Württemberg wurden 2017 bisher 11.290 Asylanträge gestellt.
In Niedersachsen stellten 10.003 Menschen im Januar bis Juni 2017 einen Antrag auf Asyl.
In Rheinland-Pfalz beantragten 2017 bislang 7.610 Menschen Asyl.
In Hessen stellten in den ersten sechs Monaten 2017 7.508 Bewerber einen Asylantrag.
In Berlin wurden von Januar bis Juni 2017 5.535 Anträge auf Asyl gestellt.
Bis Mitte 2017 stellten 4.205 Menschen einen Asylantrag in Sachsen.
3.346 Asylanträge verzeichnet Schleswig-Holstein für die ersten sechs Monate 2017.
Einen Asylantrag in Sachsen-Anhalt stellten bis Juni 2017 3.304 Menschen.
Asyl in Brandenburg beantragten in der ersten Jahreshälfte 3.162 Menschen.
In Thüringen wurden in den Monaten Januar bis Juni 2017 3.049 Asylanträge gestellt.
In Hamburg stellten bis Ende Juni 2017 2.633 Menschen einen Antrag auf Asyl.
In Mecklenburg-Vorpommern stellten 2.104 Menschen einen Asylantrag (Januar bis juni 2017).
Bis Juni 2017 stellten im Saarland 1.538 Menschen einen Asylantrag.
In Bremen beantragten bis Ende Juni 1.192 Menschen Asyl.
Bei 94 Asylanträgen bis Mitte 2017 ist das Bundesland, in dem der Antrag gestellt wurde, anscheinend unbekannt.
Auch Niedersachsen will alle 17 Notunterkünfte bis zum Jahresende dicht machen. Um für einen erneuten Anstieg der Flüchtlingszahlen kurzfristig gerüstet zu sein, plant das Land sechs Notunterkünfte als Reserve ein. Nordrhein-Westfalen will 35 000 aktive Plätze für Flüchtlinge vorhalten, zusätzlich sollen 10 000 Plätze „Stand-by“ bleiben. „Da sind Betten drin und Küchen und Decken. Da muss dann nur noch die Heizung angestellt werden und ein Betreuungsverband mit seinem Personal kommen“, sagt ein Sprecher des Innenministeriums.
Das Asylpaket II
Die Vorsitzenden der Koalitionsparteien haben mit ihrer Einigung am Donnerstag den Weg für das Asylpaket II freigemacht. Die Inhalte des Gesetzesvorhabens im Überblick (Quelle: Reuters).
Aufnahmezentren: Kern des Pakets sind spezielle Aufnahmezentren, von denen bundesweit drei bis fünf entstehen sollen. Auf diese hatten sich die Parteichefs bereits im November als Kompromiss im Streit um die von der Union geforderten Transitzonen verständigt.
In den Zentren sollen bestimmte Gruppen von Asylbewerbern Schnellverfahren durchlaufen. Dazu gehören Menschen aus sicheren Herkunftsländern, mit Wiedereinreisesperren oder Folgeanträgen. Aber auch Asylsuchende, die keine Bereitschaft zur Mitwirkung zeigen, falsche Angaben zu ihrer Identität gemacht oder Dokumente mutwillig vernichtet haben, sollen darunter fallen. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) soll über ihre Anträge vor Ort innerhalb von einer Woche entscheiden. Inklusive eines möglichen Widerspruchs vor dem Verwaltungsgericht soll das Verfahren innerhalb von drei Wochen beendet sein. Abgelehnte Asylbewerber sollen möglichst direkt aus den Einrichtungen zurückgebracht werden.
Für die Dauer des Verfahrens und gegebenenfalls bis zur Ausreise sind die Personen verpflichtet, sich nur im Bezirk der jeweiligen Ausländerbehörde aufzuhalten. Bei Verstößen riskiert der Asylbewerber, dass sein Verfahren eingestellt wird.
Für Flüchtlinge mit dem geringsten subsidiären Schutz soll der Nachzug von Familienmitgliedern für zwei Jahre ausgesetzt werden. Dabei handelt es sich um Personen, die nicht unmittelbar persönlich verfolgt sind und deshalb weder Schutz als Flüchtling noch nach dem Asylrecht erhalten. Wenn ihnen dennoch im Herkunftsland ernsthafter Schaden droht, wird ihnen der subsidiäre Schutz zuerkannt.
Die Einschränkung des Familiennachzugs für diesen Personenkreis war zum Schluss der Hauptknackpunkt. Die SPD hatte eigentlich erreichen wollen, dass Syrer von der Regelung ausgenommen werden, was die CSU aber nicht mitmachte. Der Kompromiss sieht nun vor, dass innerhalb künftiger Kontingente von Flüchtlingen, die der Türkei, dem Libanon oder Jordanien abgenommen werden, "der Familiennachzug zu bereits in Deutschland lebenden Flüchtlingen vorrangig berücksichtigt" werden soll.
Erst zum 1. August vergangenen Jahres waren subsidiär Schutzbedürftige beim Familiennachzug anerkannten Flüchtlingen gleichgestellt worden, wodurch sie in der Regel Ehepartner und Kinder nachholen dürfen. Nach Ablauf der zwei Jahre soll diese Rechtslage automatisch wieder in Kraft treten.
Flüchtlinge müssen sich künftig an den Kosten von Sprach- und Integrationskursen mit zehn Euro im Monat beteiligen. Der Betrag wird ihnen von den Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz abgezogen.
Generell sollen Abschiebungen erleichtert werden. Die Bundesregierung will dazu die Rahmenbedingungen für ärztliche Atteste präzisieren, mit denen Flüchtlinge ihre Abschiebung verhindern können. Einem Gesetzentwurf von Mitte Januar zufolge sollen grundsätzlich nur lebensbedrohliche und schwerwiegende Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden, die Rückführung verhindern können. Eine ärztliche Bescheinigung muss künftig bestimmten Kriterien entsprechen, um die Erkrankung glaubhaft zu machen.
In einem weiteren Gesetz soll mehr Rechtssicherheit für Flüchtlinge, die eine Lehre in Deutschland machen und ihre Ausbildungsbetriebe geschaffen werden. Laut Vizekanzler Sigmar Gabriel soll ein Migrant nach der Ausbildung unabhängig von seinem Status zwei Jahre in Deutschland arbeiten können. Das Alter, bis zu dem Flüchtlinge eine Lehre aufnehmen dürfen, werde von 21 auf 25 heraufgesetzt.
Marokko, Tunesien und Algerien sollen per Gesetz zu sicheren Herkunftsstaaten erklärt werden. Die Asylverfahren für Personen aus diesen Ländern werden dadurch beschleunigt. Die Regelung soll aber nicht ins Asylpaket aufgenommen werden, weil es sonst die Zustimmung des Bundesrats benötigen würde, wo Union und SPD keine eigene Mehrheit haben.
Reserven vorhalten: Das planen auch andere Länder. So sind in Hessen noch 19 Unterkünfte geöffnet, 20 auf „Stand-by“, 23 wurden geschlossen. In Hamburg werden vier Standorte mit etwa 1500 Plätzen vorgehalten, in Sachsen fünf Unterkünfte mit etwa 1400 Plätzen. In Rheinland-Pfalz waren von den 9525 Erstaufnahme-Plätzen zuletzt nur 3566 belegt. Das Integrationsministerium spricht von einem „atmenden System“, das jeweils an den Bedarf angepasst wird. Denn niemand weiß, wie sich die Flüchtlingszahlen entwickeln.
Doch erst einmal heißt es durchatmen. Vor allem in den Ländern, die besonders viele Flüchtlinge aufgenommen haben. Wie beispielsweise Baden-Württemberg: Dort gibt es insgesamt 20 Erstaufnahmestellen mit 34 000 Plätzen. Belegt sind aktuell aber nur 16 Einrichtungen - mit gerade einmal 6400 Menschen. Auch Bayern baut seine Notunterkünfte Schritt für Schritt ab.
Schwieriger ist die Situation in Berlin. In der Hauptstadt, in der die Verwaltung unter dem Andrang der Flüchtlinge im Sommer 2015 fast zusammenbrach, sind noch immer mehr als 7000 Asylbewerber in Turnhallen untergebracht. Die großen Notunterkünfte wie die Hangars am früheren Flughafen Tempelhof sind zwar längst nicht mehr voll belegt, eine Schließung ist aber nicht in Sicht.
Außerdem hat Berlin größte Probleme, genügend bezahlbare Wohnungen für anerkannte Asylbewerber zu stellen. Deshalb leben noch rund 2000 von ihnen in Heimen statt in eigenen Wohnungen. Ähnlich sieht es in vielen Städten aus. Nach einer Umfrage der Beratungsgesellschaft Ernst & Young rechnen Bürgermeister und Kämmerer mit 733 000 Flüchtlingen, die in diesem Jahr von den Kommunen unterzubringen sind. Dafür müssten die Städte und Gemeinden bis Ende des Jahres noch Wohnraum für 460 000 Menschen schaffen - die nächste Mammutaufgabe.