Arno Kompatscher Italien muss Flüchtlingsfrage klar beantworten

Italien kriselt. Ganz Italien? Nein. Im Norden erlebt Südtirol ein Wirtschaftswunder. Warum die Menschen dort trotzdem wütend sind und warum schon bald wieder Flüchtlinge am Brenner auftauchen könnten.

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Italien: Flüchtlinge in Mailand. Quelle: dpa Picture-Alliance

Am 4. Dezember werden die Italiener in einem Referendum über Verfassungsänderungen abstimmen. Die Reform soll den Einfluss des Oberhauses begrenzen und es so leichter für die Regierung machen, Gesetze zu verabschieden.

WirtschaftsWoche: Herr Kompatscher, Sie sind als amtierender Präsident der Region Trentino-Südtirol einer der wenigen ökonomischen Lichtblicke Italiens. Rechnen Sie noch mit einer Zustimmung zu dem Renzi-Projekt?
Arno Kompatscher: Man muss heute fast sagen: Wenn die Umfragen dagegen sind, ist das ein gutes Zeichen, weil die Menschen dann am Ende dafür stimmen. Aber im Ernst: Tatsache ist, dass die Möglichkeit des Scheiterns sehr real ist. Rechtlich sind die Folgen dann klar, das bisherige Verfassungssystem bleibt bestehen. Unklar sind die politischen Folgen. Da fürchte ich schon Ungewissheit.

Arno Kompatscher, Landeshauptmann von Südtirol und amtierender Präsident der autonomen Region Trentino-Südtirol. Quelle: dpa

Wie wichtig ist das Referendum?
Unabhängig von der jetzt geplanten konkreten Ausgestaltung: Das Thema, dass man dieses so genannte perfekte Zwei-Kammern-System, bei dem beide Parlamentskammern in Rom absolut gleichberechtigt sind, reformieren muss, existiert seit Jahrzehnten. Denn dieses System ist extrem entwicklungshemmend für das Land, weil es das Gesetzgebungsverfahren unnötig verlangsamt. Deswegen glaube ich auch: Wenn das Referendum mit Ja ausgeht, wird das Thema schnell gelöst. Wenn es mit Nein ausgeht, haben wir das Thema relativ bald wieder auf dem Tisch. Denn es muss eine Reform geben.

Sie selber sind ja außerhalb des klassischen italienischen Systems, weil Sie in Südtirol und Trentino große Autonomie genießen. Wie sehr betrifft Sie das Referendum überhaupt?
Wir sind als Südtiroler Volkspartei klar aufgestellt: Wir sind für die Reform. Denn sie beinhaltet für uns eine Schutzklausel, die uns für die Zukunft einen Vorbehalt bei jeglichen Änderungswünschen Roms an unserem Autonomiestatut verfassungsrechtlich festschreibt. Das gab es noch nie.

Zur Person

Dennoch ist selbst in Ihrer Region eine Mehrheit ungewiss. Woher rührt die Ablehnung?
Wir reden ja oft vom postfaktischen Zeitalter und das schlägt sich auch hier nieder: Wir haben Vollbeschäftigung und eine boomende Wirtschaft. Aber Statistik hilft dem Einzelnen offenbar nicht. Es gibt in diesem Zeitalter des Umbruchs eine große Verunsicherung, das Gefühl von Unordnung. Daraus resultiert Unzufriedenheit mit der regierenden Klasse. Auch in Zusammenhang mit dieser Abstimmung. Ich sehe das, wenn ich nach den Beweggründen für ein Ja oder Nein frage: In beiden Fällen sagen die Leute: Wegen der Regierung. Keiner weiß, über was wirklich abgestimmt wird. Das ist wie beim Brexit.

Ein Thema, das mit dem Referendum eigentlich nichts zu tun hat, aber offenbar eine große Rolle im Nein-Lager spielt, ist die Flüchtlingsfrage. Hätten Sie sich hier mehr Hilfe von Europa gewünscht, um Italiens Regierung politisch zu entlasten?
Italien macht ja mittlerweile seine Hausaufgaben, registriert und betreut die Menschen. Die Frage ist, wie lange eine Regierung das aushält, dass nur dieser Teil der europäischen Vereinbarungen umgesetzt wird. Es gibt ja auch einen anderen Teil, die Solidarität unter den Mitgliedsstaaten bei der Bewältigung der Aufgaben. Und die fehlt. Die Regierungen Nord- und vor allem Osteuropas lassen Italien alleine. Das merken die Wähler und sind dann eben auch aus diesem Grund gegen Europa.

Wann ist Ihre Aufnahmekapazität für Flüchtlinge am Ende?
Da müssen Sie Stimmung und Realität unterscheiden. Bei uns ist die Stimmung so, als ob wir schon an unsere Belastungsgrenze gestoßen wären, obwohl es in ganz Südtirol nur 1400 Flüchtlinge bei 500.000 Einwohnern gibt. Aber wir müssen diesem Gefühl begegnen, den Menschen signalisieren: Wir haben die Macht, die Dinge zu gestalten und Regeln durchzusetzen. Dann akzeptieren sie auch, dass die Gesellschaft etwas leisten muss.

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