Auf einer noch grundsätzlicheren Ebene hat Großbritannien seine Abneigung gegen das Prinzip der "ever closer union" klar gemacht. Das Land will nicht akzeptieren, dass der Weg der ständigen Vertiefung und des Zusammenwachsens der Union vorgezeichnet ist. Das sehen viele in Kontinentaleuropa anders, aber der Meinungsunterschied liegt so tief im Grundsätzlichen, dass im Praktischen durchaus Kompromisse möglich sind. Die britische Forderung beispielweise, den nationalen Parlamenten wieder mehr Rechte gegenüber EU-weiten Regeln zu geben, findet durchaus auch im Rest der Union punktuell Zustimmung.
Die Forderungen erscheinen also keineswegs unerfüllbar. Mit einer Einigung ist ein Austritt Großbritannien aber noch nicht abgewendet, denn Cameron hat diese Einigung lediglich zur Bedingung dafür gemacht, dass er persönlich den Wählern empfiehlt, für den Verbleib in der EU zu stimmen. Wenn es dazu kommt und der Premierminister seine Position offiziell gemacht hat, dürften auch andere meinungsbildende Kräfte in Großbritannien, die sich bisher zurückgehalten haben, ihre Stimme pro EU erheben.
Darum will Angela Merkel die Briten in der EU halten
Angela Merkel und der britische Premier David Cameron wollen gemeinsam verhindern, dass Brüssel noch mehr Macht bekommt. Der Kampf gegen die EU-Bürokratie eint Berlin und London.
Soll es je eine echte gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU geben, geht das nur mit den Briten. Schließlich sind sie ständiges Mitglied im UN-Sicherheitsrat und im Besitz von Atomwaffen.
In der Wirtschaftspolitik hat Merkel mit den Briten mehr gemeinsame liberale Prinzipien als mit dem französischen Sozialisten François Hollande. Auch bei TTIP und Freihandel verbindet Merkel viel mit den britischen Konservativen.
Sollten die Briten austreten, würden in den skandinavischen Ländern und in den Niederlanden ebenfalls die Anti-EU-Strömungen stärker. Und auch in Deutschland bekämen die EU-Gegner Auftrieb.
Ohne die Briten würde der europäische Binnenmarkt kleiner und schwächer – ein Nachteil für die deutschen Unternehmen, die auf der Insel über 120 Milliarden Euro investiert haben, mehr als doppelt so viel wie in Frankreich und China.
Ob das genügen wird, ist aber weiter fraglich. Denn ein erheblicher Teil der Wähler ist grundsätzlich gegen "Europe" oder hält die politischen Forderungen Camerons für völlig unzureichend. Diese Gruppen werden jedwede denkbare Einigung als faulen Kompromiss ablehnen. Auch spielen bei dem Referendum unbestimmte Ängste vor Einwanderung und Überfremdung eine wichtige Rolle. Man mag argumentieren, dass Großbritannien in dieser Hinsicht weit weniger zu befürchten hat als Deutschland und andere kontinentaleuropäische Länder.
Aber die Unzufriedenheit über die als übermäßig empfundene Einwanderung sitzt tief. Großbritannien verzeichnete 2015 eine Nettoeinwanderung von rund 330.000 Menschen – nachdem Cameron ein Jahr zuvor eine Beschränkung auf maximal 100.000 versprochen hatte. Und dass selbst in einem Land mit Insellage eine Obergrenze für die Einwanderung nicht durchsetzbar ist, dürfte übrigens auch Angela Merkel zu denken gegeben haben.
Und schließlich findet die Abstimmung in Großbritannien im Sommer 2016 zu einem für Europa insgesamt überaus ungünstigen Zeitpunkt statt. Denn immer mehr Staaten erheben Sonderwünsche oder verweigern der Gemeinschaft die Solidarität. Viele osteuropäische Staaten fahren einen stark nationalistischen Kurs bei Themen wie Flüchtlinge oder Minderheitenrechte. Andere Staaten weichen vom gemeinsamen Reformkurs zur Lösung der Schuldenkrise ab. Vor diesem Hintergrund wird es sicherlich generell schwerer, Menschen zum Festhalten an der Europäischen Idee zu bewegen – nicht nur in Großbritannien sondern auch in anderen EU-Ländern.