Großbritannien marschiert mit großen Schritten auf den Austritt aus der EU zu. Denn am Mittwochabend stimmten 494 gegen 122 Abgeordnete im Unterhaus in dritter und letzter Lesung ohne eine einzige Änderung für das EU-Austrittsgesetz. Zwar muss der Entwurf noch vom Oberhaus abgesegnet werden, doch das gilt als recht sicher. Das ungewählte House of Lords könnte die Umsetzung des Gesetzes zwar bis zu einem Jahr verzögern und mit Zusatzklauseln versehen. Angesichts der überwältigenden Mehrheit im Unterhaus wäre das allerdings politisch heikel.
Premierministerin Theresa May dürfte den offiziellen Antrag auf die Scheidung von der EU nun wohl unmittelbar nach der Abstimmung in der zweiten Kammer einreichen. Aller Voraussicht nach wird sie den Austrittsparagraphen Artikel 50 bereits am 8.oder 9. März aktivieren und damit den zweijährigen Countdown für den Abschied der Briten aus der EU einleiten.
„Wir haben einen historischen Augenblick erlebt“, lobte Brexit-Minister David Davis. Ein historischer Augenblick, der allerdings eine erschreckende Unterwürfigkeit der britischen Parlamentarier demonstriert und zeigt, wie unangefochten die konservative Regierungschefin May trotz einer schmalen Unterhausmehrheit derzeit agieren kann.
Welche deutschen Branchen der Brexit treffen könnte
Jedes fünfte aus Deutschland exportierte Auto geht laut Branchenverband VDA ins Vereinigte Königreich. Präsident Matthias Wissmann warnte daher vor Zöllen, die den Warenverkehr verteuerten. BMW etwa verkaufte in Großbritannien 2015 rund 236 000 Autos - über 10 Prozent des weltweiten Absatzes. Bei Mercedes waren es 8 Prozent, bei VW 6 Prozent. BMW und VW haben auf der Insel zudem Fabriken für ihre Töchter Mini und Bentley. Von „deutlich geringeren Verkäufen“ in Großbritannien nach dem Brexit-Votum berichtete bereits Opel. Der Hersteller rechnet wegen des Entscheids 2016 nicht mehr mit der angepeilten Rückkehr in die schwarzen Zahlen.
Für die deutschen Hersteller ist Großbritannien der viertwichtigste Auslandsmarkt nach den USA, China und Frankreich. 2015 gingen Maschinen im Wert von 7,2 Milliarden Euro auf die Insel. Im vergangenen Jahr liefen die Geschäfte weniger gut. In den ersten zehn Monaten 2016 stiegen die Exporte nach Großbritannien dem Branchenverband VDMA zufolge um 1,8 Prozent gemessen am Vorjahr. 2015 waren sie aber noch um 5,8 Prozent binnen Jahresfrist gewachsen. Mit dem Brexit sei ein weiteres Konjunkturrisiko für den Maschinenbau dazugekommen, sagte VDMA-Präsident Carl Martin Welcker im Dezember.
Die Unternehmen fürchten schlechtere Geschäfte wegen des Brexits. Der Entscheid habe bewirkt, dass sich das Investitions- und Konsumklima in Großbritannien verschlechtert habe, sagte jüngst Kurt Bock, Präsident des Branchenverbands VCI. Für die deutschen Hersteller ist Großbritannien ein wichtiger Abnehmer gerade von Pharmazeutika und Spezialchemikalien. 2016 exportierten sie Produkte im Wert von 12,9 Milliarden Euro ins Vereinigte Königreich, rund 7,3 Prozent ihrer Gesamtexporte.
Für Elektroprodukte „Made in Germany“ ist Großbritannien der viertgrößte Abnehmer weltweit. 2015 exportierten deutsche Hersteller laut Branchenverband ZVEI Waren im Wert von 9,9 Milliarden Euro in das Land, 9,5 Prozent mehr als im Vorjahr. Im vergangenen Jahr liefen die Geschäfte mit dem Vereinigten Königreich nicht mehr so gut. Nach zehn Monaten verzeichnet der Verband ein Plus bei den Elektroausfuhren von 1,7 Prozent gemessen am Vorjahr. Grund für die Eintrübung seien nicht zuletzt Wechselkurseffekte wegen des schwachen Pfunds, sagte Andreas Gontermann, Chefvolkswirt des ZVEI.
Banken brauchen für Dienstleistungen in der EU rechtlich selbstständige Tochterbanken mit Sitz in einem EU-Staat. Derzeit können sie grenzüberschreitend frei agieren. Mit dem Brexit werden Barrieren befürchtet. Deutsche Geldhäuser beschäftigten zudem Tausende Banker in London, gerade im Investmentbanking. Die Deutsche Bank glaubt indes nicht, dass sie ihre Struktur in Großbritannien „kurzfristig wesentlich“ ändern muss. Die Commerzbank hat ihr Investmentbanking in London schon stark gekürzt. Um viel geht es für die Deutsche Börse. Sie will sich mit dem Londoner Konkurrenten LSE zusammenschließen. Der Brexit macht das Projekt noch komplizierter.
Die Labour-Partei, die in der Brexit-Frage tief gespalten ist, erwies sich erneut als kraftlose Opposition. 52 Abgeordnete der Arbeiterpartei stimmten gegen das EU-Austrittsgesetz und widersetzten sich damit dem von Labour-Chef Jeremy Corbyn verhängten Fraktionszwang. Und die Rebellen in Mays Konservativer Partei beteiligten sich zwar an der leidenschaftlichen dreitägigen Debatte, doch bis auf den ehemaligen Finanzminister Ken Clarke, der schon in der ersten Lesung als einziger Konservativer gegen die Regierung gestimmt hatte, gab es auch diesmal keine weiteren Rebellen bei den Tories.
Obwohl die Mehrheit der 650 Abgeordneten des britischen Unterhauses eigentlich gegen den Austritt aus der EU ist, fühlten sich mit Ausnahme der Liberaldemokraten und der Scottish National Party (SNP) letztlich fast alle Labour- und Tory-Politiker gezwungen, für das EU-Austrittsgesetz zu stimmen. Um nicht den Eindruck zu erwecken, sich dem Willen des britischen Volkes zu widersetzen, das im Juni 2016 mehrheitlich für den Brexit gestimmt hatte.
Vor allem die Labour-Partei befand sich allerdings in einem großen Dilemma: viele Abgeordnete waren zwar persönlich für den Verbleib in der EU, vertreten aber Wahlkreise, die mehrheitlich für den Austritt gestimmt hatten. Sie fürchten daher bei der nächsten Wahl nicht mehr aufgestellt zu werden.
Außerdem setzte Labour-Chef Corbyn die Abgeordneten seiner Partei für die Abstimmung unter Fraktionszwang, denn auch er möchte bei den nächsten Wahlen nicht abgestraft werden. Allerdings rebellierten mehrere Mitglieder seines Schattenkabinetts – noch am Mittwochabend trat etwa der Schattenwirtschaftsminister zurück, weil er gegen den Brexit ist.
Das Parlament stellt einen Blanko-Scheck aus
Labour und die Scottish National Party (SNP) hatten zwar allerlei Anträge für zusätzliche Klauseln eingereicht, doch letztlich fand sich keine Mehrheit dafür – so ging der Entwurf ohne eine einzige Änderung durch. May hatte dem Parlament eigentlich ohnehin kein Votum einräumen wollen und berief sich dabei auf ihr Recht, das Ergebnis der Volksabstimmung vom letzten Sommer, bei dem 52 Prozent ihrer Landleute für den Brexit gestimmt hatten, einfach umsetzen zu können.
Erst eine Entscheidung des Obersten Gerichts, das von der Geschäftsfrau Gina Miller und nicht von einem Politiker angerufen worden war, zwang sie zur Konsultation mit dem Parlament. Das Unterhaus hat allerdings nun im Hinblick auf seine Rolle als Kontrolleur der Regierung versagt und seine Chance verspielt, durch Änderungsanträge Einfluss auf die Austrittsverhandlungen mit der EU zu nehmen.
Die Regierung hatte ein äußerst knapp formuliertes Gesetz vorgelegt, das nur rund hundert Wörter umfasste und ihr mehr oder weniger einen Blanko-Scheck für ihre Verhandlungen mit den übrigen 27 EU-Partnern ausstellt. In einer Grundsatzrede am 17. Januar und später in einem 75-seitigen Weißbuch hat May in groben Zügen signalisiert, wohin sie steuern will und dabei eine Kompromisslosigkeit erkennen lassen, die klar macht, dass Großbritannien einen sogenannten „harten Brexit“ anstrebt, der nicht nur den Abschied aus der EU sondern auch aus dem Europäische Wirtschaftsraum (EWR) beinhalten wird.
Im Zentrum steht dabei, dass Großbritannien den europäischen Binnenmarkt und die Zollunion verlassen und sich gleichzeitig darum bemühen will, ein Freihandelsabkommen mit der EU zu schließen, das den Import und Export mit der Union möglichst zollfrei und ohne andere Handelsbarrieren ermöglichen soll. Priorität hat dabei allerdings, dass die bisher im Rahmen des EU-Binnenmarktes geltende Freizügigkeit aufgehoben wird und es künftig eine strengere Einwanderungskontrolle für EU-Bürger geben soll.
Da die Freizügigkeit zu einer der vier Säulen des europäischen Binnenmarktes gehört, wird es aus Sicht der übrigen EU-Staaten nicht länger möglich sein, dass Großbritannien künftig im Handel künftig ebenso hohe Privilegien genießt wie bisher. Doch May betont, sie strebe weitgehende Freiheit im Handel mit der EU an. Ob ihr das gelingen wird ist sehr zweifelhaft.
Wo die großen Brexit-Baustellen sind
Seit der konservative Premier David Cameron seinen Rücktritt angekündigt hat, tobt ein Kampf um seine Nachfolge - nicht nur hinter den Kulissen. Als aussichtsreichste Kandidaten gelten Brexit-Wortführer Boris Johnson und Innenministerin Theresa May. Johnson werden die besten Chancen eingeräumt, auch wenn er erbitterte Feinde in der Tory-Fraktion hat. May könnte als Kompromisskandidatin gelten, sie war zwar im Lager der EU-Befürworter, hielt sich aber mit öffentlichen Äußerungen zurück.
Labour-Chef Jeremy Corbyn laufen nach dem Rauswurf seines schärfsten Kritikers Hilary Benn die Mitglieder seines Schattenkabinetts in Scharen davon. Mehr als die Hälfte seines Wahlkampfteams trat bereits zurück. Sie werfen Corbyn vor, nur halbherzig gegen einen EU-Austritt geworben zu haben, und stellen seine Führungsqualitäten in Frage. Dahinter steckt auch die Befürchtung, es könne bald zu Neuwahlen kommen. Viele Labour-Abgeordnete befürchten, mit dem Linksaußen Corbyn an der Spitze nicht genug Wähler aus der Mitte ansprechen zu können. Corbyn war im Spätsommer vergangenen Jahres per Urwahl an die Parteispitze gerückt, hat aber wenig Unterstützung in der Fraktion.
Der scheidende Premier David Cameron kündigte an, die offiziellen Austrittsverhandlungen mit der EU nicht mehr selbst einzuleiten. Der Ablösungsprozess könnte damit frühestens nach Camerons Rücktritt beginnen - womöglich erst im Oktober. Äußerungen anderer britischer Politiker lassen befürchten, dass sich die Briten gern sogar noch mehr Zeit lassen würden. Am allerliebsten würden sie schon vor offiziellen Austrittsverhandlungen an einem neuen Abkommen mit der EU basteln. Brüssel, Berlin und Paris dringen aber auf einen raschen Beginn der Austrittsverhandlungen.
Seit dem Brexit-Votum liegt die Frage nach der schottischen Unabhängigkeit wieder auf dem Tisch. Die Schotten stimmten - anders als Engländer und Waliser - mit einer Mehrheit von 62 Prozent gegen einen Brexit. Schottlands Regierungschefin Nicola Sturgeon kündigte in Edinburgh an, Vorbereitungen für ein zweites Unabhängigkeitsreferendum einzuleiten. Boris Johnson deutete jedoch bereits an, dass er als Premierminister da nicht mitspielen würde: „Wir hatten ein Schottland-Referendum 2014 und ich sehe keinen echten Appetit auf ein weiteres in der nahen Zukunft“, schrieb Johnson in einem Gastbeitrag im „Daily Telegraph“. Auch Premierminister David Cameron erteilte einem erneuten Schottland-Referendum eine Absage.
In beiden Teilen der Insel herrscht Sorge, der Brexit könnte dazu führen, dass wieder Grenzkontrollen eingeführt werden und der Friedensprozess gestört wird. Irlands Ministerpräsident Enda Kenny versicherte, seine Regierung arbeite eng mit Belfast und London zusammen, um die Grenzen offenzuhalten. Ähnlich wie in Schottland stimmte auch in Nordirland eine Mehrheit der Wähler gegen den Austritt des Königreichs aus der EU. Die nordirische nationalistische Partei Sinn Fein forderte bereits eine Abstimmung über eine Wiedervereinigung Irlands und Nordirlands.
Das britische Pfund verlor seit dem Brexit-Votum massiv an Wert gegenüber dem Dollar und fiel auf den niedrigsten Stand seit drei Jahrzehnten. Auch die Börsenkurse stürzten zeitweise in den Keller. Der britische Finanzminister George Osborne versuchte am Montag, Sorgen an den Märkten zu zerstreuen. Großbritannien sei auf alles vorbereitet, sagte Osborne. Noch am Tag nach der Brexit-Entscheidung war Notenbank-Chef Mark Carney vor die Kameras getreten und hatte angekündigt, die Bank of England könne bis zu 250 Milliarden Pfund in die Hand nehmen, um weitere Verwerfungen zu verhindern. Trotz allem verlor das Pfund weiter an Wert.
Im Verlauf der Unterhausdebatte zeigte sich auch, wie schnell sich ein Triumph in einen Pyrrhus-Sieg verwandeln kann: Eben noch hatte der Labour-Abgeordnete Keir Starmer sich als Sieger gefühlt – doch dann kam die Enttäuschung. Brexit-Staatssekretär David Jones nämlich stellte klar, dass May das Parlament am Ende der zweijährigen Austrittsverhandlungen zwar über das künftige Abkommen mit der EU abstimmen lassen will, eine Ablehnung aber keine Nachverhandlungen zur Folge hätte. Die Abgeordneten in London werden nur mit „Ja“ oder „Nein“ stimmen können. Sollten sie das von May ausgehandelte Paket ablehnen, hätte das zur Folge, dass Großbritannien die EU ohne eine Vereinbarung verlässt und damit nur noch die recht ungünstigen Regeln der Welthandelsorganisation WTO gelten. Keine attraktive Alternative also.
Doch wer wird May aufhalten? In Edinburgh stimmte das schottische Regionalparlament zwar gegen das EU-Austrittsgesetz. Doch die Regierung will und kann dieses Votum ignorieren. Zwar zeigen die Umfragen, dass heute mehr Schotten für die Abspaltung vom Vereinigten Königreich stimmen würden als beim Referendum im September 2014. Dennoch würde es nicht für die Unabhängigkeit reichen. Damit aber erweisen sich die Drohungen der schottischen Ministerpräsidentin Nicola Sturgeon als stumpfes Schwert.
Da Schottland in der EU bleiben möchte, fordert sie Sonderkonditionen und verlangt, dass Großbritannien oder nur Schottland weiter ungehinderten Zugang zum Binnenmarkt haben sollte. Doch diese Quadratur des Kreises ist unrealistisch.