Brexit wohl ohne Cameron
Falls das Ergebnis eine Mehrheit für die Brexit-Befürworter bringt, dürfte Premierminister David Cameron zügig seinen Rücktritt erklären. Ein Votum gegen die Union wäre nicht nur ein Votum gegen seine ausdrückliche Position. Es wäre auch eine herbe Niederlage im parteiinternen Machtkampf, der sich schon über Jahre zieht. Der Premier selbst hatte das Referendum initiiert, um parteiinternen EU-Skeptikern den Wind aus den Segeln zu nehmen. Camerons Nachfolger würde dann den Austritt und die damit verbundenen Verhandlungen abwickeln.
Die wichtigsten Infos zum Brexit-Referendum
Brexit ist ein Kunstwort aus Britain und Exit (Austritt). Im Juni 2012 schrieb das britische Magazin "Economist" erstmals von der Möglichkeit eines "Brixit". Danach etablierte sich in der Presse die Version "Brexit". Vorbild dieser Wortschöpfung war der Begriff "Grexit", der sich auf dem Höhepunkt der Griechenland-Krise etablierte. Gemeint war damit aber nur das - mögliche - Ausscheiden Griechenlands aus der Eurozone.
Die Abstimmung wurde den Wählern von Premier David Cameron versprochen - seine Tory-Partei war damit in den Wahlkampf zur Unterhauswahl 2015 gezogen. Cameron, der selbst für die EU-Mitgliedschaft eintritt, wollte parteiinternen EU-Skeptikern damit den Wind aus den Segeln nehmen. Schon seit Jahren gab es parteiintern die Forderung nach einer Befragung des Volkes zum Verbleib in der EU. Die Unzufriedenheit mit der Zuwanderungspolitik der europäischen Partner bestärkte viele Briten in ihrer Ablehnung gegenüber der EU. Der Kampagne war ein Machtkampf mit der Europäischen Union voraus gegangen. Bereits 2011 hatte Cameron seine Zustimmung zum EU-Fiskalpakt verweigert und kurz darauf mit einem Veto zur mittelfristigen Finanzplanung der EU gedroht. In harten Verhandlungen rang Cameron den europäischen Partnern Zugeständnisse ab, etwa beim für den Finanzplatz London so wichtigen Thema der Bankenregulierung.
Befürworter eines Brexit wie der ehemalige Bürgermeister Londons, Boris Johnson, argumentieren, dass die EU für Großbritannien als drittgrößter Nettozahler ein Verlustgeschäft sei. Ein weiteres Argument ist die Kontrolle über die Grenzen. Unionsbürger haben das Recht, sich im Königreich niederzulassen. Derzeit leben und arbeiten dort mehr als zwei Millionen Menschen aus anderen EU-Ländern. Sie belasten angeblich die sozialen Sicherungssysteme - Studien widerlegen dies jedoch. Die in den Augen vieler Briten ausufernde Regulierung durch Brüssel sorgt zudem für Unmut. Brexit-Befürworter halten die EU außerdem für nicht ausreichend demokratisch legitimiert und fordern die Rückbesinnung auf nationale Souveränität.
Die Anhänger des EU-Verbleibs warnen in erster Linie vor wirtschaftlichen Konsequenzen. Einem Gutachten des britischen Finanzministeriums zufolge würde der Brexit jeden Haushalt in Großbritannien 4300 Pfund pro Jahr kosten. Der Grund: Das Land müsste neue Freihandelsabkommen abschließen, Investitionen aus Drittstaaten könnten zurückgehen und Banken könnten nach Kontinentaleuropa abwandern. Die Folge wäre eine Rezession.
Die Wahllokale sind am Donnerstag von 07.00 Uhr morgens bis 22.00 Uhr britischer Zeit geöffnet - also von 08.00 bis 23.00 Uhr deutscher Zeit. Nur in Gibraltar schließen die Wahllokale wegen der Zeitverschiebung eine Stunde früher. Danach beginnt die Auszählung. Nach bisherigem Stand wird es nach Schließung der Wahllokale weder Prognosen noch Hochrechnungen geben. Im Laufe der Nacht werden aber die Ergebnisse aus den einzelnen Wahlbezirken nach und nach bekannt werden. Die meisten Resultate dürften zwischen 03.00 und 05.00 Uhr deutscher Zeit vorliegen. Ein Endergebnis wird am Freitag um die Frühstückszeit erwartet - wenn es nicht wegen Pannen zu Verzögerungen kommt.
Das weitere Vorgehen wird sich dann am EU-Vertrag orientieren. Darin ist seit 2009 festgelegt, wie ein Staat aus der Union austreten kann. Der entscheidende Artikel 50 sieht folgende Schritte vor, sollten die Briten für den Austritt votieren: Zunächst müsste Großbritannien den Europäischen Rat formell über seine Absicht informieren, die EU zu verlassen. Die Staats- und Regierungschefs aller EU-Mitglieder (ohne Großbritannien) würden dann die Leitlinien für die Austrittsverhandlungen festlegen.
Artikel 50 regelt den Austritt
Die EU-Kommission oder ein anderes von den Staaten ernanntes Gremium müsste danach mit Großbritannien ein Abkommen über die Einzelheiten des Austritts aushandeln. Darin würde auch der Rahmen für die künftigen Beziehungen Großbritanniens zur Union festgelegt. Britische Beiträge zum EU-Haushalt, Agrarsubventionen und Strukturfonds würden abgewickelt, das Ausscheiden aus dem Binnenmarkt sowie aus allen EU-Institutionen und Verträgen der EU mit Drittstaaten müssten geregelt werden. Wenn die EU-Staaten ein solches Abkommen verabschiedeten, wäre der Brexit vollzogen.
Käme kein Abkommen zustande und würde keine Fristverlängerung gewährt, würde Großbritannien zwei Jahre nach dem Einreichen des Austrittsgesuchs ungeregelt aus der EU ausscheiden.
Im Anschluss könnten die EU und Großbritannien über ein Partnerschaftsabkommen verhandeln. Das würde aber Jahre in Anspruch nehmen. Es gibt Vorbilder, wie eine solche Partnerschaft aussehen könnte. Einige Nicht-EU-Länder pflegen Beziehungen mit der Union, die als Modell dienen könnten – für den Fall, dass die Briten sich für den Brexit entscheiden.
Auch einseitige Kündigung denkbar
Gibt es Vorbilder für den Austritt?
Das Modell „Norwegen“: Das skandinavische Land ist durch das sogenannte EWR-Abkommen eng an die EU angebunden. Vorteil für Norwegen ist der freie Zugang zum Binnenmarkt der EU. Um von diesem Privileg profitieren zu können, muss das Land allerdings auch die EU-Regeln zur Bewegungsfreiheit für Arbeitnehmer und Dienstleistungen respektieren. Zudem muss Norwegen derzeit die 15 am wenigsten wohlhabenden Länder der EU mit EWR-Fördergeldern in Höhe von jährlich 388 Millionen Euro unterstützen. Weiterer Minuspunkt des Modells: Trotz des EWR-Abkommens besitzt Norwegen innerhalb der EU in den entscheidenden Organen kein Stimmrecht. Das Land muss also EU-Recht akzeptieren, hat darauf aber kaum Einfluss.
Das Modell „Schweiz“: Die engen Beziehungen zwischen der EU und der Schweiz werden durch ein dichtes Netz von rund 120 Abkommen geregelt. Das Alpenland hat zum Beispiel einen direkten Zugang zu etlichen wichtigen Sektoren des EU-Binnenmarktes. Wie Norwegen muss sich allerdings auch die Schweiz dafür an zahlreiche EU-Regeln halten und auch finanzielle Beiträge leisten. Zum Beispiel zahlt sie für ihre Einbindung in den Europäischen Forschungsraum und für Projekte zur „Verringerung der wirtschaftlichen und sozialen Ungleichheiten in der erweiterten EU“. Das Modell „Schweiz“ könnte für Großbritannien interessant sein, vor allem wenn es zusätzlich den Zugang zum Sektor Finanzdienstleistungen ermöglichen würde. In EU-Kreisen gilt es allerdings als äußert unwahrscheinlich, dass die EU noch einmal einem Land ein ähnliches Modell zugesteht. Es gilt als zu komplex.
Das Modell „Kanada“: Das Freihandelsabkommen (Comprehensive Economic and Trade Agreement), das die EU mit Kanada ausgehandelt hat, ist umfassender als alle vorher geschlossen Verträge dieser Art. Es umfasst allerdings nicht den für Großbritannien so wichtigen Bereich der Dienstleistungen. Laut EU-Kommission entfallen „mehr als 99 %“ der Zölle durch das Abkommen CETA. Es soll Zugangsbeschränkungen bei öffentlichen Aufträgen beseitigen, Investoren verlässliche Bedingungen bieten und nicht zuletzt die illegale Nachahmung von EU-Innovationen erschweren. Insgesamt liegen die deutsch-kanadischen Handelsbeziehungen dennoch unter dem Potenzial beider Volkswirtschaften. Die großen kanadischen Rohstoffvorkommen spielen für die Rohstoff- und Energieversorgung Deutschlands bislang nur eine untergeordnete Rolle, werden für den deutschen Markt aber zunehmend interessanter. Kritiker fürchten, dass nur große Konzerne von diesen Abkommen profitieren werden – auf Kosten der Bürger.
Das „WTO“-Modell: Wenn sich die beiden Parteien auf kein anderes Modell einigen können, würde der Handel künftig nach den Regeln der Welthandelsorganisation (WTO) ablaufen. Der Zugang Großbritanniens zum EU-Binnenmarkt wäre so beschränkt wie der eines Landes wie Neuseeland. Vor allem für die britische Finanzbranche wäre dieses Modell vermutlich katastrophal.
Auch in Zukunft ohne Visum
Für die meisten EU-Länder ist anzunehmen, dass auch in Zukunft Visumfreiheit bei Reisen ins Königreich besteht. Dennoch: Es müssten Einzelfallregelungen mit jedem Land geschlossen werden. Betroffen könnten auch Regelungen sein, die die EU mit Drittländern, aktuell gerade mit der Türkei, schließt. Sie würden dann möglicherweise nicht mehr für Großbritannien gelten. Dominic Raab, eine der führenden Pro-Brexit-Figuren, warnt: „Briten könnten künftig für Reisen nach Europa ein Visum benötigen.“
Allerdings ist davon auszugehen, dass die Briten Übergangsfristen gelten lassen würden. Großbritannien hatte 2004 bewusst mehr Osteuropäer ins Land gelassen als viele andere EU-Länder, weil Arbeiter benötigt wurden. Harte Regelungen nach einem Brexit könnten für einige Branchen, etwa Hotellerie oder Bau, die Arbeitskräfte knapp werden lassen. Daran hat Großbritannien, das einen riesigen Investitionsstau im Hoch- und Tiefbau hat, kein Interesse.
Einseitige Kündigung möglich
Der Premier, David Cameron oder im Falle seines Rücktritts sein Nachfolger, könnten auch auf einen formellen Austrittsantrag verzichten und diesen nur für später ankündigen. Großbritannien könnte dann einseitig das EU-Recht aufkündigen. Das würde bedeuten, dass die Einwanderung von EU-Ausländern gestoppt wird und keine rechtliche Bindung mehr an EuGH-Urteile besteht. Auch die EU-Finanzmarktregulierung würde dann nicht mehr stattfinden.
Das würde dazu führen, dass die EU Großbritannien vom Binnenmarkt ausschließt. Die Folge wäre wohl eine schwere Wirtschaftskrise im Königreich, Pfund und Aktien britischer Unternehmen würden drastisch an Wert verlieren.
Fall "Bremain"
Wenn die Briten für Verbleib stimmen
Ein klares Votum für eine Mitgliedschaft in der EU, mindestens 60 zu 40 Prozent, würde David Cameron und die EU-Regierungschefs stärken. Die Vereinbarungen vom EU-Gipfel im Februar (Kürzung von Sozialleistungen für EU-Ausländer, Stärkung der nationalen Parlamente) würden dadurch bekräftigt. Noch in diesem Jahr wäre damit zu rechnen, dass die EU-Kommission Entwürfe zur konkreten Umsetzung der Vereinbarungen verabschiedet. Nächste wichtige Wegmarke: der EU-Gipfel am 28. Juni.
Sollte die Entscheidung pro EU knapp ausfallen, zum Beispiel mit 51 zu 49 Prozent der Stimmen, wäre die Situation schwieriger. Die Kritiker würden nicht klein beigeben und weiterhin auf mehr Unabhängigkeit pochen. Premier Cameron könnte dann weitere Ausnahmen vom EU-Recht fordern (etwa auf dem Gipfel am 28. Juni). Die Staats- und Regierungschefs der anderen EU-Staaten würden solchen Forderungen aber wohl eine Abfuhr erteilen. Es käme zum offenen Konflikt – so, wie er bereits seit Jahren schwelt.
Angst vor Domino-Effekt
Die große Befürchtung in Brüssel ist, dass die Abstimmung auch in anderen Ländern Schule macht. Tatsache ist: In vielen Ländern haben antieuropäische Strömungen zuletzt viel Zulauf bekommen. Der Front National von Marie Le Pen etwa in Frankreich, Gert Wilders in den Niederlanden, die AfD in Deutschland. In der europäischen Bevölkerung ist die Skepsis gegenüber Brüssel nach Umfragen groß.
Auch wenn es nicht gleich zu Austritten kommt: Die Forderungen vieler Länder an Brüssel könnten mit der Androhung von Austritten viel mehr Nachdruck erhalten. Eine Umfrage des Instituts Ipsos in neun großen EU-Ländern hat ergeben, dass die Ansteckungsgefahr eines Brexit allgemein als hoch angesehen wird.