Brexit In or out? So geht es weiter

Der Ausgang des Referendums über den Verbleib der Briten in der EU ist offen. Klar ist aber: Unabhängig vom Ergebnis kommt viel Arbeit auf Europa zu. Das sind die möglichen Szenarien nach der Abstimmung.

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Britische Fähnchen stehen in Berlin zum Verkauf bereit. Die Brandenburger Wirtschaft hofft auf den Verbleib Großbritanniens in der Europäischen Union. Quelle: dpa

Brexit wohl ohne Cameron

Falls das Ergebnis eine Mehrheit für die Brexit-Befürworter bringt, dürfte Premierminister David Cameron zügig seinen Rücktritt erklären. Ein Votum gegen die Union wäre nicht nur ein Votum gegen seine ausdrückliche Position. Es wäre auch eine herbe Niederlage im parteiinternen Machtkampf, der sich schon über Jahre zieht. Der Premier selbst hatte das Referendum initiiert, um parteiinternen EU-Skeptikern den Wind aus den Segeln zu nehmen. Camerons Nachfolger würde dann den Austritt und die damit verbundenen Verhandlungen abwickeln.

Die wichtigsten Infos zum Brexit-Referendum

Das weitere Vorgehen wird sich dann am EU-Vertrag orientieren. Darin ist seit 2009 festgelegt, wie ein Staat aus der Union austreten kann. Der entscheidende Artikel 50 sieht folgende Schritte vor, sollten die Briten für den Austritt votieren: Zunächst müsste Großbritannien den Europäischen Rat formell über seine Absicht informieren, die EU zu verlassen. Die Staats- und Regierungschefs aller EU-Mitglieder (ohne Großbritannien) würden dann die Leitlinien für die Austrittsverhandlungen festlegen.

Artikel 50 regelt den Austritt

Die EU-Kommission oder ein anderes von den Staaten ernanntes Gremium müsste danach mit Großbritannien ein Abkommen über die Einzelheiten des Austritts aushandeln. Darin würde auch der Rahmen für die künftigen Beziehungen Großbritanniens zur Union festgelegt. Britische Beiträge zum EU-Haushalt, Agrarsubventionen und Strukturfonds würden abgewickelt, das Ausscheiden aus dem Binnenmarkt sowie aus allen EU-Institutionen und Verträgen der EU mit Drittstaaten müssten geregelt werden. Wenn die EU-Staaten ein solches Abkommen verabschiedeten, wäre der Brexit vollzogen.

Was Partnerländer über einen EU-Ausstieg denken
US-Präsident Barack Obama in London Quelle: AP
Die chinesische Flagge vor einem Hochhaus Quelle: dpa
Ein paar Rial-Scheine Quelle: dpa
Der russische Präsident Wladimir Putin Quelle: REUTERS
Das Logo des japanischen Autobauers Nissan Quelle: REUTERS

Käme kein Abkommen zustande und würde keine Fristverlängerung gewährt, würde Großbritannien zwei Jahre nach dem Einreichen des Austrittsgesuchs ungeregelt aus der EU ausscheiden.

Im Anschluss könnten die EU und Großbritannien über ein Partnerschaftsabkommen verhandeln. Das würde aber Jahre in Anspruch nehmen. Es gibt Vorbilder, wie eine solche Partnerschaft aussehen könnte. Einige Nicht-EU-Länder pflegen Beziehungen mit der Union, die als Modell dienen könnten – für den Fall, dass die Briten sich für den Brexit entscheiden. 

Auch einseitige Kündigung denkbar

Gibt es Vorbilder für den Austritt?

Das Modell „Norwegen“: Das skandinavische Land ist durch das sogenannte EWR-Abkommen eng an die EU angebunden. Vorteil für Norwegen ist der freie Zugang zum Binnenmarkt der EU. Um von diesem Privileg profitieren zu können, muss das Land allerdings auch die EU-Regeln zur Bewegungsfreiheit für Arbeitnehmer und Dienstleistungen respektieren. Zudem muss Norwegen derzeit die 15 am wenigsten wohlhabenden Länder der EU mit EWR-Fördergeldern in Höhe von jährlich 388 Millionen Euro unterstützen. Weiterer Minuspunkt des Modells: Trotz des EWR-Abkommens besitzt Norwegen innerhalb der EU in den entscheidenden Organen kein Stimmrecht. Das Land muss also EU-Recht akzeptieren, hat darauf aber kaum Einfluss.

Das Modell „Schweiz“: Die engen Beziehungen zwischen der EU und der Schweiz werden durch ein dichtes Netz von rund 120 Abkommen geregelt. Das Alpenland hat zum Beispiel einen direkten Zugang zu etlichen wichtigen Sektoren des EU-Binnenmarktes. Wie Norwegen muss sich allerdings auch die Schweiz dafür an zahlreiche EU-Regeln halten und auch finanzielle Beiträge leisten. Zum Beispiel zahlt sie für ihre Einbindung in den Europäischen Forschungsraum und für Projekte zur „Verringerung der wirtschaftlichen und sozialen Ungleichheiten in der erweiterten EU“. Das Modell „Schweiz“ könnte für Großbritannien interessant sein, vor allem wenn es zusätzlich den Zugang zum Sektor Finanzdienstleistungen ermöglichen würde. In EU-Kreisen gilt es allerdings als äußert unwahrscheinlich, dass die EU noch einmal einem Land ein ähnliches Modell zugesteht. Es gilt als zu komplex.

Das Modell „Kanada“: Das Freihandelsabkommen (Comprehensive Economic and Trade Agreement), das die EU mit Kanada ausgehandelt hat, ist umfassender als alle vorher geschlossen Verträge dieser Art. Es umfasst allerdings nicht den für Großbritannien so wichtigen Bereich der Dienstleistungen. Laut EU-Kommission entfallen „mehr als 99 %“ der Zölle durch das Abkommen CETA. Es soll Zugangsbeschränkungen bei öffentlichen Aufträgen beseitigen, Investoren verlässliche Bedingungen bieten und nicht zuletzt die illegale Nachahmung von EU-Innovationen erschweren. Insgesamt liegen die deutsch-kanadischen Handelsbeziehungen dennoch unter dem Potenzial beider Volkswirtschaften. Die großen kanadischen Rohstoffvorkommen spielen für die Rohstoff- und Energieversorgung Deutschlands bislang nur eine untergeordnete Rolle, werden für den deutschen Markt aber zunehmend interessanter. Kritiker fürchten, dass nur große Konzerne von diesen Abkommen profitieren werden – auf Kosten der Bürger.

Das „WTO“-Modell: Wenn sich die beiden Parteien auf kein anderes Modell einigen können, würde der Handel künftig nach den Regeln der Welthandelsorganisation (WTO) ablaufen. Der Zugang Großbritanniens zum EU-Binnenmarkt wäre so beschränkt wie der eines Landes wie Neuseeland. Vor allem für die britische Finanzbranche wäre dieses Modell vermutlich katastrophal. 

Auch in Zukunft ohne Visum

Für die meisten EU-Länder ist anzunehmen, dass auch in Zukunft Visumfreiheit bei Reisen ins Königreich besteht. Dennoch: Es müssten Einzelfallregelungen mit jedem Land geschlossen werden. Betroffen könnten auch Regelungen sein, die die EU mit Drittländern, aktuell gerade mit der Türkei, schließt. Sie würden dann möglicherweise nicht mehr für Großbritannien gelten. Dominic Raab, eine der führenden Pro-Brexit-Figuren, warnt: „Briten könnten künftig für Reisen nach Europa ein Visum benötigen.“

Allerdings ist davon auszugehen, dass die Briten Übergangsfristen gelten lassen würden. Großbritannien hatte 2004 bewusst mehr Osteuropäer ins Land gelassen als viele andere EU-Länder, weil Arbeiter benötigt wurden. Harte Regelungen nach einem Brexit könnten für einige Branchen, etwa Hotellerie oder Bau, die Arbeitskräfte knapp werden lassen. Daran hat Großbritannien, das einen riesigen Investitionsstau im Hoch- und Tiefbau hat, kein Interesse.

Einseitige Kündigung möglich

Der Premier, David Cameron oder im Falle seines Rücktritts sein Nachfolger, könnten auch auf einen formellen Austrittsantrag verzichten und diesen nur für später ankündigen. Großbritannien könnte dann einseitig das EU-Recht aufkündigen. Das würde bedeuten, dass die Einwanderung von EU-Ausländern gestoppt wird und keine rechtliche Bindung mehr an EuGH-Urteile besteht. Auch die EU-Finanzmarktregulierung würde dann nicht mehr stattfinden.

Das würde dazu führen, dass die EU Großbritannien vom Binnenmarkt ausschließt. Die Folge wäre wohl eine schwere Wirtschaftskrise im Königreich, Pfund und Aktien britischer Unternehmen würden drastisch an Wert verlieren.

Fall "Bremain"

Wenn die Briten für Verbleib stimmen

Ein klares Votum für eine Mitgliedschaft in der EU, mindestens 60 zu 40 Prozent, würde David Cameron und die EU-Regierungschefs stärken. Die Vereinbarungen vom EU-Gipfel im Februar (Kürzung von Sozialleistungen für EU-Ausländer, Stärkung der nationalen Parlamente) würden dadurch bekräftigt. Noch in diesem Jahr wäre damit zu rechnen, dass die EU-Kommission Entwürfe zur konkreten Umsetzung der Vereinbarungen verabschiedet. Nächste wichtige Wegmarke: der EU-Gipfel am 28. Juni.

Sollte die Entscheidung pro EU knapp ausfallen, zum Beispiel mit 51 zu 49 Prozent der Stimmen, wäre die Situation schwieriger. Die Kritiker würden nicht klein beigeben und weiterhin auf mehr Unabhängigkeit pochen. Premier Cameron könnte dann weitere Ausnahmen vom EU-Recht fordern (etwa auf dem Gipfel am 28. Juni). Die Staats- und Regierungschefs der anderen EU-Staaten würden solchen Forderungen aber wohl eine Abfuhr erteilen. Es käme zum offenen Konflikt – so, wie er bereits seit Jahren schwelt.

Angst vor Domino-Effekt

Die große Befürchtung in Brüssel ist, dass die Abstimmung auch in anderen Ländern Schule macht. Tatsache ist: In vielen Ländern haben antieuropäische Strömungen zuletzt viel Zulauf bekommen. Der Front National von Marie Le Pen etwa in Frankreich, Gert Wilders in den Niederlanden, die AfD in Deutschland. In der europäischen Bevölkerung ist die Skepsis gegenüber Brüssel nach Umfragen groß.

Auch wenn es nicht gleich zu Austritten kommt: Die Forderungen vieler Länder an Brüssel könnten mit der Androhung von Austritten viel mehr Nachdruck erhalten. Eine Umfrage des Instituts Ipsos in neun großen EU-Ländern hat ergeben, dass die Ansteckungsgefahr eines Brexit allgemein als hoch angesehen wird. 

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