Nach monatelangen Diskussionen stimmen die Briten heute darüber ab, ob ihr Land in Zukunft noch zur Europäischen Union gehören soll. Kaum eine internationale Organisation, Geschäftsbank oder ein amtierender Politiker hat es sich nehmen lassen, die Briten vor dem Sprung ins Ungewisse zu warnen.
Mit Bergen von Zahlen haben die Volkswirte der Banken versucht, den Briten die wirtschaftlichen Kosten eines EU-Austritts bis hinter das Komma vermeintlich genau auszurechnen, um sie vom Verbleib in der Staatengemeinschaft zu überzeugen. Politiker haben versucht, ihnen mit Sprüchen wie „In is in and out is out“ (Wolfgang Schäuble) die Irreversibilität ihrer Entscheidung vor Augen zu führen und sie vom Brexit abzuhalten.
Ob die Kampagnen gegen den Brexit verfangen haben, wird sich zeigen, wenn das amtliche Abstimmungsergebnis morgen vorliegt. Klar ist, dass eine Trennung mit Kosten verbunden ist.
Die wichtigsten Infos zum Brexit-Referendum
Brexit ist ein Kunstwort aus Britain und Exit (Austritt). Im Juni 2012 schrieb das britische Magazin "Economist" erstmals von der Möglichkeit eines "Brixit". Danach etablierte sich in der Presse die Version "Brexit". Vorbild dieser Wortschöpfung war der Begriff "Grexit", der sich auf dem Höhepunkt der Griechenland-Krise etablierte. Gemeint war damit aber nur das - mögliche - Ausscheiden Griechenlands aus der Eurozone.
Die Abstimmung wurde den Wählern von Premier David Cameron versprochen - seine Tory-Partei war damit in den Wahlkampf zur Unterhauswahl 2015 gezogen. Cameron, der selbst für die EU-Mitgliedschaft eintritt, wollte parteiinternen EU-Skeptikern damit den Wind aus den Segeln nehmen. Schon seit Jahren gab es parteiintern die Forderung nach einer Befragung des Volkes zum Verbleib in der EU. Die Unzufriedenheit mit der Zuwanderungspolitik der europäischen Partner bestärkte viele Briten in ihrer Ablehnung gegenüber der EU. Der Kampagne war ein Machtkampf mit der Europäischen Union voraus gegangen. Bereits 2011 hatte Cameron seine Zustimmung zum EU-Fiskalpakt verweigert und kurz darauf mit einem Veto zur mittelfristigen Finanzplanung der EU gedroht. In harten Verhandlungen rang Cameron den europäischen Partnern Zugeständnisse ab, etwa beim für den Finanzplatz London so wichtigen Thema der Bankenregulierung.
Befürworter eines Brexit wie der ehemalige Bürgermeister Londons, Boris Johnson, argumentieren, dass die EU für Großbritannien als drittgrößter Nettozahler ein Verlustgeschäft sei. Ein weiteres Argument ist die Kontrolle über die Grenzen. Unionsbürger haben das Recht, sich im Königreich niederzulassen. Derzeit leben und arbeiten dort mehr als zwei Millionen Menschen aus anderen EU-Ländern. Sie belasten angeblich die sozialen Sicherungssysteme - Studien widerlegen dies jedoch. Die in den Augen vieler Briten ausufernde Regulierung durch Brüssel sorgt zudem für Unmut. Brexit-Befürworter halten die EU außerdem für nicht ausreichend demokratisch legitimiert und fordern die Rückbesinnung auf nationale Souveränität.
Die Anhänger des EU-Verbleibs warnen in erster Linie vor wirtschaftlichen Konsequenzen. Einem Gutachten des britischen Finanzministeriums zufolge würde der Brexit jeden Haushalt in Großbritannien 4300 Pfund pro Jahr kosten. Der Grund: Das Land müsste neue Freihandelsabkommen abschließen, Investitionen aus Drittstaaten könnten zurückgehen und Banken könnten nach Kontinentaleuropa abwandern. Die Folge wäre eine Rezession.
Die Wahllokale sind am Donnerstag von 07.00 Uhr morgens bis 22.00 Uhr britischer Zeit geöffnet - also von 08.00 bis 23.00 Uhr deutscher Zeit. Nur in Gibraltar schließen die Wahllokale wegen der Zeitverschiebung eine Stunde früher. Danach beginnt die Auszählung. Nach bisherigem Stand wird es nach Schließung der Wahllokale weder Prognosen noch Hochrechnungen geben. Im Laufe der Nacht werden aber die Ergebnisse aus den einzelnen Wahlbezirken nach und nach bekannt werden. Die meisten Resultate dürften zwischen 03.00 und 05.00 Uhr deutscher Zeit vorliegen. Ein Endergebnis wird am Freitag um die Frühstückszeit erwartet - wenn es nicht wegen Pannen zu Verzögerungen kommt.
Zwischen Staaten ist das nicht anders als zwischen Menschen. Die Unsicherheit darüber, welchen wirtschaftspolitischen Kurs die Briten einschlagen und ob es ihnen gelingt, den freien Handel mit Kontinentaleuropa aufrecht zu erhalten, dürfte im Falle eines Austritts Bremsspuren in den volkswirtschaftlichen Statistiken hinterlassen. Verschreckte Kapitalanleger könnten Großbritannien verlassen, das Pfund könnte einbrechen, Investitionen könnten auf Eis gelegt werden und die Konjunktur könnte einen Dämpfer erhalten.
Doch die negativen Folgen eines Brexit für die britische Wirtschaft wären vorübergehender Natur. Sie könnten sogar eine heilsame Wirkung entfalten. Denn sie erzeugen Druck auf die Regierung in London, die Ärmel aufzukrempeln, Investoren anzulocken, die Lebensbedingungen für die Bürger zu verbessern und sich für Freihandel einzusetzen.
Die Wirtschaften dies- und jenseits des Ärmelkanals sind eng miteinander verflochten. 47 Prozent der britischen Exporte gehen in die EU-Länder, 7 Prozent der EU-Exporte fließen nach Großbritannien. Niemand dürfte deshalb ein ernsthaftes Interesse daran haben, die Zollmauern gegenüber Großbritannien hoch zu ziehen.
Wichtiger als die kurzfristigen konjunkturellen Konsequenzen eines Brexit sind die politischen Implikationen des Referendums. Denn nicht nur die Briten hadern mit der Entkernung ihrer nationalen Souveränität durch die machtsaugenden EU-Technokraten. Auch in Frankreich, den Niederlanden, Finnland, Österreich, Italien und Deutschland regt sich Widerstand gegen die Verlagerung nationaler Kompetenzen auf die EU-Ebene. Die Euro-Krise hat das Unwohlsein der Bürger mit der europäischen Integration noch verstärkt.
Die von der deutschen Kanzlerin dirigierten, von Brüssel orchestrierten, von der EZB finanzierten und von den Verfassungsrichtern goutierten Rettungsaktionen zugunsten bankrotter Krisenländer haben das Recht (Bail-Out-Verbot, Verbot der monetären Staatsfinanzierung) gebogen.
Die Herrschaft des Rechts in Europa, deren Ursprung im angelsächsischen Rechtssystem liegt und die einen Eckpfeiler jeder freien Gesellschaft darstellt, wurde der Rettung der Gemeinschaftswährung geopfert. Dem Kontinent wurde das Gerüst eines Schattenstaates (ESM, EFSF, EZB-Bankenaufsicht) übergestülpt ohne dafür das Placet der Bürger einzuholen.
Wen wundert es da, wenn sich die Bürger in die Fundamentalopposition zur politischen Klasse und zur EU begeben?