Brexit-Jubiläum Der Abstieg Großbritanniens hat begonnen

Brexit Quelle: dpa

Vor zwei Jahren stimmten die Briten für den Abschied aus der EU. Realität ist der Brexit noch nicht, doch der Überdruss nimmt auf allen Seiten zu. Die negativen wirtschaftlichen Folgen machen sich zunehmend bemerkbar.

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Sabine Schuster-Nussey: geblümtes, ärmelloses Sommerkleid, kinnlange Bob-Frisur. Verheiratet mit einem Briten, wohnhaft in der Kleinstadt Chelmsford, Mutter eines Sohnes mit Down Syndrom. Auch 33 Jahre nach ihrem Abschied aus der alten Heimat sieht man ihr an, dass sie Deutsche ist. Schuster-Nussey hat bis heute keinen britischen Pass. Und sorgt sich um ihre Zukunft. Was geschieht mit ihr, wenn Großbritannien sich in rund 280 Tagen aus der EU verabschiedet? Wird sie in ihrer Wahlheimat bleiben können, wie Premierministerin Theresa May verspricht? Und: ist sie auch später, im Alter, vor Ausweisung geschützt? Wird sie das staatliche Gesundheitssystem NHS in Anspruch nehmen können?

Fragen, die zwei Jahre nach dem EU-Referendum den meisten der 3,8 Millionen EU-Bürger in Großbritannien Sorgen machen. Fragen, auf die auch die Unternehmen auf der Insel, die Mitarbeiter aus der EU beschäftigen, dringend eine Antwort brauchen. Innenminister Sajid Javid stellt zwar ein unbürokratisches Verfahren in Aussicht, um den Europäern, die heute im Lande sind, Aufenthaltsrechte („Settled Status“) zu gewähren.

Doch das ist nur eine Absichtserklärung, es gilt weiter die Devise: „Dass nichts entschieden ist, bevor alles entschieden ist“. Deshalb fühlen sich viele Ausländer im Königreich heute vor allem als Verhandlungsmasse bei den Scheidungsgesprächen zwischen London und Brüssel.

Die Überraschung war groß, als die Brexit-Anhänger die Volksabstimmung am 23. Juni 2016 mit 52 zu 48 Prozent gewannen. Und immer noch spaltet die Frage der EU-Mitgliedschaft Politiker, Arbeitskollegen, Nachbarn und Familien. Doch die Mehrheit der Briten ist dieser Debatte längst überdrüssig. Kurz vor dem zweiten Jahrestag der Entscheidung, hat der Brexit etwas Surreales: einerseits ist er omnipräsent, ein ständiges Grundrauschen, das sich kaum ausblenden lässt. Andererseits weiß niemand, wie das Verhältnis zur EU nach dem offiziellen Austritt am 29. März 2019 aussehen soll. 

Quälend lang zieht sich der Abschied in die Länge; die Frustration über die schleppenden Verhandlungen mit Brüssel wächst. Manche Briten glauben gar, dass Großbritannien längst ausgetreten ist, andere wollen nur einfach so schnell wie möglich raus, ohne wenn und aber.

Doch manche Unternehmen wollen nicht mehr länger warten und ziehen die Notbremse: Der Luft- und Raumfahrtkonzern Airbus warnte gestern, in diesem Sommer stünden wichtige Investitionsentscheidungen an, „da wir keine Klarheit haben, müssen wir von einem Worst-Case-Scenario ausgehen“, so Tom Williams, der Chief Operating Officer von Airbus in einem Interview mit der Times. Das Unternehmen, das in Broughton und Filton Flügel für den Airbus baut, die dann zur Endmontage nach Deutschland und Frankreich gehen, macht sich Sorgen wegen möglicher künftiger Grenzkontrollen zwischen Großbritannien und der EU. Es hat bereits begonnenen, seine Zulieferer anzuweisen, vermehrt Komponenten zu lagern, um seine komplexen Lieferketten zu schützen, die durch Verzögerungen durch künftige Zollgrenzen gefährdet wären. Denn die Airbus-Bauteile überqueren vor der Endmontage gleich mehrmals die Grenzen. Ein harter Brexit, also der von May angekündigte Ausstieg aus dem Binnenmarkt und der Zollunion würde zusätzliche Kosten verursachen und die Wettbewerbsfähigkeit der britischen Betriebe gefährden. Airbus droht damit, Großbritannien langfristig ganz den Rücken zu kehren und die Produktion in andere EU-Länder oder nach China zu verlagern. Auf der Insel beschäftigt der Konzern direkt 14.000 Mitarbeiter und arbeitet mit 4000 britischen Zulieferern zusammen.

Eine Minderheit hofft immer noch auf ein Wunder, darauf, dass sich die Brexit-Entscheidung rückgängig machen läßt. Theresa May gelang es erneut, sie im letzten Moment umzustimmen und so eine Mehrheit für das EU-Austrittsgesetz zu gewinnen. Dabei ging es zuletzt nur um einen Änderungsantrag, nämlich um das Recht des Parlaments über das Endergebnis der Brüsseler Brexit-Verhandlungen abstimmen zu können, falls May mit leeren Händen aus Brüssel zurückkehren und damit das gefürchtete „No-Deal-Scenario“ Realität werden sollte.

Der harte Brexit und die Folgen – für beide Seiten ein Schreckensszenario

Das Votum endete mit 319 zu 303 Stimmen für die Regierung. Mit der Zustimmung des Oberhauses am Mittwochabend nahm das EU-Austrittsgesetz dann endgültig alle parlamentarischen Hürden. In den kommenden Wochen will die Regierung noch weitere Gesetzentwürfe zum Brexit vorlegen, über die gewünschten Zoll- und Handelsvereinbarungen und die neuen Einwanderungsbestimmungen. Doch vor dem EU-Gipfel am 28. und 29. Juni wird das nicht geschehen: May will ihr zerstrittenes Kabinett erst Anfang Juli auf ihren Landsitz Chequers einladen, um dort nach einer gemeinsamen Linie zu suchen. 

Auch die öffentliche Meinung gibt den Europafreunden wenig Anlass zur Hoffnung. Das jüngste leichte Plus der EU-Befürworter in den neuesten Umfragen beruht nämlich vor allem darauf, dass nun einige Nichtwähler von 2016 ihre Passivität von damals bereuen. Generell haben nur wenige Wähler die Seiten gewechselt, die meisten fühlen sich in ihrer Entscheidung von 2016 bestärkt, berichtet der Professor John Curtice, ein renommierter Akademiker, der auf seiner Website „What UK Thinks“ die Umfrageergebnisse der verschiedenen Institute vergleicht.  

Alle Privilegien der EU-Mitgliedschaft

Im Alltag hat sich eben noch nichts verändert: Die Briten genießen weiterhin alle Privilegien der EU-Mitgliedschaft, den ungehinderten Zugang zum Binnenmarkt, die Reise- und Zollfreiheit. Manche glauben gar, es werde immer so weitergehen. Großbritannien sehe einer goldenen, selbstbestimmten Zukunft entgegen, behaupten überzeugte Brexitiers wie der ultrakonservative Hinterbänkler Jacob Rees-Mogg und Außenminister Boris Johnson. Die Drohkulisse eines dramatischen konjunkturellen Absturzes hat sich bisher tatsächlich nicht bewahrheitet.

Allerdings mehren sich nun doch die Warnzeichen für die negativen wirtschaftlichen Konsequenzen des bevorstehenden Abschieds aus dem EU-Binnenmarkt und der Zollunion. Die Inflation ist gestiegen, das Vertrauen der Konsumenten geschwunden, mit neuen Investitionen halten sich viele Firmen angesichts der Ungewissheit über die Zukunft Großbritanniens als Drittland zurück. „Die Wirtschaft steckt in einer Flaute“, erklärte die British Chambers of Commerce (BCC). 

Die Handelskammer senkte ihre Prognose für das Wachstum des Bruttoinlandsproduktes von 1,4 auf 1,3 Prozent – 2018 könnte Großbritannien also das schwächste Wirtschaftswachstum seit der Krise von 2009 verzeichnen. „Unsicherheiten rund um den Brexit, Zinserhöhungen und internationale Entwicklungen wie ein möglicher Handelskrieg sowie steigende Ölpreise hinterlassen alle ihre Wirkung“, begründet die BCC ihre pessimistischere Prognose. Schon im ersten Quartal legte die Wirtschaft so langsam zu, wie seit 2012 nicht mehr: Im Vergleich zum Vorjahresquartal wuchs sie nur noch um 1,2 Prozent – weit weniger dynamisch also als im Durchschnitt der letzten fünf Jahre.

Allerdings gab es im Juni einen Hoffnungsschimmer: die Auftragsbücher der britischen Industrie füllten sich so schnell wie seit Januar nicht mehr, wie der Industrieverband CBI soeben verkündete. Chefökonomin Anna Leach allerdings versetzte der Freude über diese Trendmeldung gleich wieder einen Dämpfer: „Es bleiben die Risiken durch den bevorstehenden Austritt aus der EU und die steigenden Spannungen rund um den Welthandel“, warnte sie.

Schließlich profitieren die britischen Exporteure derzeit wieder einmal von der Schwäche der britischen Währung. Das Pfund rutschte im Vorfeld des Showdowns im Parlament vorübergehend bis auf 1,3148 Dollar ab – ein Siebenmonatstief. Die britische Währung schwächelte damit sogar noch stärker als nach dem Schock der Referendums-Nacht von 2016: binnen zwei Stunden war sie damals auf ein 30-Jahres-Tief von 1,32 Dollar abgesackt, als sich abzeichnete, dass die Insel für den Austritt aus der EU gestimmt hatte.

Die Auszählung des Wahlkreises Sunderland im Nordosten von England signalisierte in jener dramatischen Nacht die Wende. „We are out“ verkündete dann um 4.40 Uhr morgens der BBC-Veteran David Dimbleby mit sonorer Stimme. Seitdem ist die britische Währung ein Spielball der Politik: sieht es nach einem „weichen Brexit“ aus, bei dem Großbritannien weiterhin Zugang zum Binnenmarkt hätte, bekommt sie Auftrieb. In diesem Frühjahr kletterte sie sogar wieder auf 1,4376 Dollar und näherte sich damit wieder dem Niveau vor dem EU-Referendum an. Jeder Hinweis auf einen „harten Brexit“ oder ein Scheitern der Verhandlungen mit Brüssel aber lässt das Pfund sofort wieder abwärts trudeln.

Launisch ist seit dem EU-Referendum auch der für die Briten so wichtige Immobilienmarkt. In London fallen die Hauspreise – allein im Juni gingen sie um 0,9 Prozent zurück – Experten des Immobilienspezialisten „Rightmove“ sprechen vom zehnten negativen Monat in Folge. Pessimisten befürchten, dass dies der Beginn einer lange andauernden Talfahrt sein könnte, Makler berichten von einem Käuferstreik. Da viele Luxus-Appartements und Häuser in den teuren Gegenden wie Kensington oder Chelsea traditionell von ausländischen Bankern oder anderen wohlhabenden EU-Bürgern erworben werden, könnte es hier durchaus ein Zusammenhang zum Brexit geben. „Die Party am Londoner Wohnungsmarkt ist vorbei und der Kater fängt gerade erst an“, so Neal Hudson, Gründer der Research-Firma Residential Analysts.

Anderseits erhöht das schwache Pfund die Attraktivität der Londoner Immobilien für ausländische Käufer. Die fallenden Hauspreise könnten demnach auch Ausdruck der Zinserwartungen sein, denn die Bank of England signalisiert allmählich ein Ende der lockeren Geldpolitik. Der durch die Pfundschwäche ausgelöste Inflationsschub macht ihr Sorgen, einmal hat sie die Zinsen 2017 bereits geringfügig angehoben. 

Teuerung

Die Teuerung bekommen die Verbraucher bereits im Geldbeutel zu spüren. So haben die Lebensmittelpreise kräftig zugelegt, die höheren Ölpreise schlagen sich in steigenden Benzinpreisen nieder. Notenbankchef Mark Carney konstatierte kürzlich: „Das reale Haushaltseinkommen ist heute etwa 900 Pfund geringer als wir es im Mai 2016 vorhergesagt hatten und das ist eine Menge Geld.“ Die britische Wirtschaft sei weniger stark gewachsen als damals erwartet, so Carney. Der Gouverneur der Bank of England bezifferte die Differenz zwischen seiner damaligen Prognose und der aktuellen Lage mit rund zwei Prozent. Trotz der extrem geringen Arbeitslosigkeit, die auf dem tiefsten Stand seit den siebziger Jahren verharrt, haben die Löhne und Gehälter nicht mit der Preisentwicklung Schritt gehalten.

Kein Wunder also, dass die Briten derzeit wenig Lust zum Shoppen verspüren. Vielleicht haben sie auch mehr Angst vor der Zukunft als früher, schließlich häufen sich in letzter Zeit die Berichte von Stellenkürzungen im Einzelhandel und in der Industrie. Der Triebwerkshersteller Rolls-Royce will in den nächsten zwei Jahren 4600 Jobs abbauen; durch die Pleite des Discounters Poundworld werden 5100 Arbeitsplätze verloren gehen und das sind nur zwei Beispiele der jüngsten Zeit.

Dass die Verbraucher vorsichtiger geworden sind, bekommt auf der Insel auch die Autoindustrie zu spüren: 2016 war noch ein Rekordjahr, 2017 aber ging der Absatz um 5,7 Prozent zurück, dieses Jahr wird ein weiterer Rückgang erwartet. Die Ratingagentur Moody`s prognostiziert bereits, dass der Absatz auch im nächsten Jahr rückläufig sein wird. Zwar gilt auch hier: es geht nicht nur um den Brexit, auch der Dieselskandal hinterlässt Spuren. Und im April gab es sogar erstmals seit langem wieder einen kleinen monatlichen Zuwachs. Doch das könnte auch ein statistischer Ausreißer gewesen sein: neue Steuerbestimmungen hatten im Vorjahresmonat den Autoabsatz gedämpft.

Und wie steht es mit der Brexit-Dividende? Theresa May erklärte Anfang der Woche zur allgemeinen Überraschung, das überlastete Gesundheitssystem NHS werde bis 2023 jedes Jahr zusätzliche Mittel von 20 Milliarden Pfund bekommen – ein Teil davon werde durch die Ersparnisse finanziert, die Großbritannien nach dem Austritt zu Gute kämen, weil es keine Beiträge zum EU-Haushalt mehr bezahlen müsse. „Das wird also aus der Brexit-Dividende finanziert, auch wenn wir selbst dann auch noch etwas mehr (zum NHS-Budget) beitragen müssen”, erklärte May freudig der staunenden Nation. Viele ihrer Landsleute erinnern sich noch an den knallroten Wahlkampfbus, mit dem Boris Johnson 2016 im Vorfeld des Referendums durch die Lande tingelte.

„Wir schicken jede Woche 350 Millionen Pfund in der Woche an die EU – lasst uns statt dessen unser NHS finanzieren“, das stand in überdimensionalen Lettern auf dem Bus. Ein zynischer Slogan, der sich hinterher als völlig falsch entpuppte. Selbst hartgesottene Brexitiers distanzierten sich später davon. Und auch May wird ihr populistisches Flunkern bald bereuen, denn schon jetzt steht fest, dass Großbritannien allein 39 Milliarden Pfund an Scheidungskosten an die EU überweisen muss.

Außerdem wird London auch künftig Beiträge zum EU-Etat leisten müssen, wenn die Briten – wie sie bereits angekündigt haben – selektiv weiter an bestimmten EU-Programmen wie dem Luftfahrtabkommen oder der Wissenschaftsförderung Horizon2020 teilnehmen wollen. Finanzminister Philip Hammond, ein eingefleischter „Remainer“ sah sich denn auch gezwungen, die Worte seiner Chefin richtigzustellen: Im Vorfeld seiner alljährlichen Rede vor der City-Elite im Londoner Mansion House ließ sein Ministerium verlauten, finanziert werde das Geschenk zum 70. Geburtstag des NHS in erster Linie durch höhere Beiträge der Steuerzahler.

Schwächeres Wachstum, höhere Inflation und die Aussicht auf Steuererhöhungen – zum 2. Jahrestag des Brexit-Referendums haben die Briten also wirklich wenig Grund, einen Champagner zu köpfen. Zumal auch der heute teurer ist als damals.

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