
Zum „Alles-oder-Nichts-Gipfel“ hatte EU-Ratspräsident Donald Tusk das Treffen der 28 Staats- und Regierungschefs in Brüssel ausgerufen. Das klang spektakulär, war in Wirklichkeit jedoch Teil einer Inszenierung. Litauens Staatspräsidentin Dalia Grybauskaite prognostizierte vor dem Gipfel: „Jeder wird sein eigenes Drama haben und dann werden wir zustimmen.“ Das war vor allem auf den britischen Premier David Cameron gemünzt, der seinem Publikum zu Hause suggerieren will, wie hart er in Europa für britische Interessen kämpft.
An konkreten Ergebnissen hat der erste Gipfeltag wenig gebracht, dafür die erwartbaren Scharmützel. Bundeskanzlerin Angela Merkel betonte in der Nacht auf Freitag, der Wille zu einer Einigung mit Großbritannien bestehe, allerdings störten sich einzelne Länder noch an bestimmten Punkten. Italiens Ministerpräsident Matteo Renzi warnte nach der ersten Sitzung zum Thema Brexit, er sei weniger optimistisch als bei seiner Ankunft, dass es ein Einigung geben werde.
Cameron war kampflustig in die Sitzung gegangen und hatte den Staats- und Regierungschefs berichtet, dass ihr bisheriges Angebot vom Monatsbeginn bei seinen Landsleuten nicht gut angekommen sei. Vor allem bei der diffizilen Frage der Sozialleistungen für Migranten forderte er Ausnahmen von bis zu 13 Jahren. Die Verhandlungen dazu werden am Freitag ab elf Uhr fortgesetzt. In der Zwischenzeit arbeiten Unterhändler der Staaten an einer Lösung. „Es gibt noch viel zu tun“, sagt Ratspräsident Tusk.
Die polnische Regierungschefin Beata Szydlo, aus deren Land das Gros der Migranten in Großbritannien kommt, sprach sich für eine Einigung aus - „aber nicht zu jedem Preis“. Unter den Staats- und Regierungschefs besteht ein Konsens, einen Brexit zu vermeiden. Allerdings ist allen Beteiligten klar, dass zu großzügige Konzessionen an Cameron Nachahmer in anderen Ländern auf den Plan bringen werden.
In Frankreich hat die Rechts-Populistin Marine Le Pen vom Front National bereits angekündigt, sich am britischen Beispiel zu orientieren und ebenfalls Sonderwünsche bei der EU geltend machen zu wollen, wenn sie 2017 die Präsidentschaftswahlen gewinnen sollte.
Die schwierige Beziehung der Briten zu Europa
Die Beziehungen zwischen Großbritannien und der Europäischen Union waren nie einfach. Der konservative britische Premierminister David Cameron will bei einer Wiederwahl 2017 ein Referendum über den Verbleib in der EU ansetzen - und vorher das Verhältnis des Königreichs zu Brüssel neu verhandeln. Geprägt von tiefem Misstrauen gegenüber Europa setzte Großbritannien in der Vergangenheit wiederholt Sonderregeln durch - und steht traditionell mit einem Fuß außerhalb der EU.
Da Großbritannien zwar viel in den EU-Haushalt einzahlte, aber kaum von den milliardenschweren Agrarhilfen profitierte, forderte die britische Premierministerin Margaret Thatcher 1979: „I want my money back!“ („Ich will mein Geld zurück!“) Die „Eiserne Lady“ setzte dann 1984 eine Rabatt-Regelung für ihr Land durch, nach der Großbritannien 66 Prozent seines Nettobeitrags an die EU zurückerhält. Der Rabatt besteht bis heute, obwohl er immer wieder den Unmut anderer EU-Länder erregt, da sie nun den britischen Anteil mittragen müssen. Doch abgeschafft werden kann die Regel nur, wenn London zustimmt.
Wer von Deutschland nach Frankreich, Österreich oder in die Niederlande reist, muss dafür seinen Pass nicht vorzeigen. Großbritannien-Urlauber sollten den Pass jedoch dabei haben: Die Briten haben sich nicht dem Schengen-Abkommen angeschlossen, das den EU-Bürgern Reisefreiheit von Italien bis Norwegen und von Portugal bis Polen garantiert.
Seit der EU-Vertrag von Lissabon im Jahr 2009 in Kraft getreten ist, kann Großbritannien wählen, an welchen Gesetzen im Bereich Inneres und Justiz es sich beteiligt. Zudem erwirkte die britische Regierung den Ausstieg aus 130 Gesetzen aus der Zeit vor dem Lissabon-Vertrag. Im Dezember 2014 stieg London dann bei rund 30 Regelungen wieder ein, darunter beim Europäischen Haftbefehl. Diese „Rosinenpickerei“ nervt im Rest der EU viele.
In der Verteidigungspolitik setzt Großbritannien auf die Nato. Als EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker im März für den Aufbau einer europäischen Armee warb, kam das „No“ aus London postwendend. „Verteidigung ist eine nationale, keine EU-Angelegenheit“, sagte ein Regierungssprecher. Obgleich Großbritannien Ende der 1990er Jahre den Widerstand gegen die Gründung der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) aufgab, wacht es darüber, dass die Europäer hier nicht zu weit gehen. So hat London verhindert, dass es ein Militärhauptquartier in Brüssel gibt. EU-Einsätze wie etwa in Mali werden deshalb dezentral aus den Mitgliedstaaten geleitet.
Auch in der Euro-Krise ist die an ihrer Pfund-Währung festhaltende britische Insel ein gutes Stück weiter von der Kern-EU weggedriftet. Mit Sorge wurden in London die mühseligen Arbeiten zur Euro-Rettung beobachtet, zudem fürchtete die britische Regierung Folgen für den Finanzstandort London durch strengere Banken-Regulierung oder eine Finanztransaktionssteuer. Für Empörung in der EU sorgte, dass sich Großbritannien dem Fiskalpakt für mehr Haushaltsdisziplin nicht anschloss.
Beim Abendessen haben sich die Staats- und Regierungschefs mit der Flüchtlingskrise befasst, dabei aber wie erwartet keinen Durchbruch erzielt. Der Bundesregierung war es im Vorfeld nicht gelungen, das Thema Kontingente auf die Tagesordnung zu heben. Merkel betonte trotzdem, sie sei sehr zufrieden mit der Debatte. Und dies, obwohl die Abschlusserklärung einen Punkt enthält, der Staaten erlaubt, Flüchtlinge nicht ins Land zu lassen, die in einem anderen Schengen-Staat zuvor einen Asylantrag hätten stellen können.
Dadurch können Länder de facto ihre Grenze schließen. Polen, Ungarn, die Slowakei und Tschechien hatten dies im Vorfeld bereits gefordert. Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte sich strikt dagegen ausgesprochen. Die Bundesregierung befürchtet nun einen Rückstau auf der Westbalkanroute.
Anfang März wollen die EU-Staaten zu einem Sondertreffen mit der Türkei zusammenkommen. Das Treffen der „Koalition der Willigen“ mit dem türkischen Premierminister Ahmet Davutoglu war ausgefallen, weil der seine Reise nach Brüssel nach der Serie von Attentaten abgesagt hatte. Die Staats- und Regierungschefs betonten, der Aktionsplan mit der Türkei bleibe eine Priorität.
Bisher zeichnet sich aber nicht ab, dass die Strategie aufgeht, bei der die Türkei im Gegenzug für drei Milliarden Euro die Flüchtlinge im Land halten soll. Seit die EU Ende November ein Abkommen mit der Türkei geschlossen hat, sind die Flüchtlingszahlen zwar leicht zurückgegangen. Die Bundesregierung konzediert jedoch, dass dies vor allem mit der Jahreszeit zu tun hat und nicht mit stärkeren Patrouillen. „Der wichtigste Faktor ist das Wetter“, heißt es in der Bundesregierung.





Experten wie Marc Pierini von der Denkfabrik Carnegie Europe halten die Strategie gegenüber der Türkei für „verfehlt“. Der Ex-Diplomat, der für die EU als Botschafter in Ankara war, bezeichnet den Aktionsplan als „seltsame Übung in Bazar-Diplomatie, die von einer panik-getriebenen EU-Führung angeschoben wurde“.
Die Ratlosigkeit der Staats- und Regierungschefs ist mittlerweile offenkundig. Am Donnerstag haben sie schriftlich festgehalten, dass der Strom an Migranten, die von der Türkei nach Griechenland kommen, „viel zu hoch ist“ und damit wahrlich keine neue Erkenntnis zu Papier gebracht.