Frankreich Mélenchons Dampferfahrt ins Ungewisse

Niedrige Zinsen, niedriger Ölpreis, niedriger Euro: Die Bedingungen für Frankreichs Wirtschaft sind gut. Aber das Land hat in der Vergangenheit zu wenig aus seinen Stärken gemacht.

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Jean-Luc Mélenchon. Quelle: AP

Als Jean-Luc Mélenchon am Ostermontag auf einem Ausflugsdampfer über die Kanäle der nördlichen Pariser Außenbezirke schipperte, da mochte man die Aufregung um den 65-Jährigen kaum nachvollziehen. Vor der Wahl am Sonntag aber gehört er zu den drei, vier Favoriten für das höchste Staatsamt. Im Beliebtheitsbarometer der französischen Politiker hat er seit März gar 15 Punkte zugelegt und rangiert nun mit 56 Prozent Zustimmung auf Platz 1. Sogar die Finanzmärkte reagierten auf seinen Aufstieg in den Umfragen.

Der Linken-Politiker Mélenchon aber hatte schon bessere Auftritte: Am Sonntag wirkte er, während das Schiff immer wieder vor ein paar hundert Anhängern stoppte, unsortiert. Seine Konkurrenten würden die Arbeiter bis zum letzten Tropfen auspressen, sagte der ehemalige Berufsbildungsminister. Er möchte mit den Windkraftwerken vor Frankreichs Küsten, die Energiewende in dem Atomkraft-verliebten Land herbeiführen. Was beim Beobachter aber blieb, war das Bild eines älteren Mannes, dem eine Mitstreiterin besorgt einen Anorak umhängte, damit er sich im kühlen April-Wind nicht erkältete. Wenig Präsidentielles.

Marine Le Pen sprach unterdessen im Wahlkampf-Endspurt vor 5000 Anhängern und versprach, dass sie Frankreich als erstes seine Grenzen zurückgeben möchte. Sie versprach einen Austritts Frankreich aus der EU.

Frankreichs Präsident - das mächtigste Staatsoberhaupt

Für die französische Wirtschaftszeitung „La Tribune“ ist es die „Wahl zwischen Pest und Cholera“. Das Wochenmagazin „Le Point“ sieht Frankreich in einem „delirium oeconomicum“. Die Rede ist von dem seit einigen Tagen nicht mehr auszuschließenden Szenario, dass die Nachbarn zwei Extreme in die Stichwahl um das Präsidentenamt schicken. In der ersten Runde am Sonntag könnten sich Marine Le Pen von der rechtsradikalen Front National und der Tribun der Linken, Jean-Luc Mélenchon, qualifizieren.

Die bisherige Beruhigungspille, dass Le Pen in der Stichwahl bestimmt auf den sozialliberalen und EU-freundlichen Kandidaten Emmanuel Macron treffen und dann haushoch verlieren wird, wirkt nicht mehr: Die Börsen reagierten nervös. Der Risikoaufschlag für französische Staatsanleihen im Vergleich zu deutschen „Bunds“stieg auf mehr als 70 Basispunkte. Unter Umständen hat Frankreich die Wahl zwischen zwei Politikern, deren Feindbilder EU und „Großkapital“ sich gleichen wie ein Ei dem anderen.

Wie kann es sein, dass ein Land, von dessen Hauptstadt internationale Investoren als dem nächsten Silicon Valley schwärmen und das um die Qualität und Anzahl seiner Fachkräfte vielerorts ebenso beneidet wird wie um seine Kultur und Lebensart, sich derart nah an den Abgrund begibt? Und droht, Europa im Fall des Falles mit hinunter zu reißen?

Frankreichs Stärken werden oft massiv unterschätzt. Im Ausland, aber vor allem zu Hause, wo Verzagtheit und Pessimismus die Schleusen öffneten für eine unbändige Wut auf angebliche Profiteure, die je nach Bedarf Brüssel heißen oder Berlin, Aktionäre, Banken, Arbeitgeber, Politiker und neuerdings auch Medien. Die französischen Banken stehen viel besser da als die deutschen? Nur weil sie Blutsauger sind. Investoren stellen Geld zur Verfügung, damit Unternehmen wachsen können und auch Arbeitsplätze schaffen?

Nein, sie sind nur an Dividenden interessiert und bauen mit den Chefs Stellen ab, weil sie den Hals nicht voll genug kriegen können! Frankreich hat zigtausende Naturwissenschaftler, Mathematiker, Informatiker und eine riesige, innovative Start-up-Szene, die das Land in das digitale Zeitalter führen? Die produzieren nichts! Die Arbeiter bleiben auf der Strecke! Die Einwanderung muss beschränkt werden! Die Reichen sind Banditen! Brüssel schützt nur das Großkapital! Deutschland zwingt uns seinen Willen auf! Und so weiter und so fort.

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