Als Jean-Luc Mélenchon am Ostermontag auf einem Ausflugsdampfer über die Kanäle der nördlichen Pariser Außenbezirke schipperte, da mochte man die Aufregung um den 65-Jährigen kaum nachvollziehen. Vor der Wahl am Sonntag aber gehört er zu den drei, vier Favoriten für das höchste Staatsamt. Im Beliebtheitsbarometer der französischen Politiker hat er seit März gar 15 Punkte zugelegt und rangiert nun mit 56 Prozent Zustimmung auf Platz 1. Sogar die Finanzmärkte reagierten auf seinen Aufstieg in den Umfragen.
Der Linken-Politiker Mélenchon aber hatte schon bessere Auftritte: Am Sonntag wirkte er, während das Schiff immer wieder vor ein paar hundert Anhängern stoppte, unsortiert. Seine Konkurrenten würden die Arbeiter bis zum letzten Tropfen auspressen, sagte der ehemalige Berufsbildungsminister. Er möchte mit den Windkraftwerken vor Frankreichs Küsten, die Energiewende in dem Atomkraft-verliebten Land herbeiführen. Was beim Beobachter aber blieb, war das Bild eines älteren Mannes, dem eine Mitstreiterin besorgt einen Anorak umhängte, damit er sich im kühlen April-Wind nicht erkältete. Wenig Präsidentielles.
Marine Le Pen sprach unterdessen im Wahlkampf-Endspurt vor 5000 Anhängern und versprach, dass sie Frankreich als erstes seine Grenzen zurückgeben möchte. Sie versprach einen Austritts Frankreich aus der EU.
Frankreichs Präsident - das mächtigste Staatsoberhaupt
Von allen Staatsoberhäuptern der Europäischen Union hat der französische Präsident die größten Vollmachten. Seine starke Stellung verdankt er der Verfassung der 1958 gegründeten Fünften Republik, ihr erster Präsident war General Charles de Gaulle.
Der Staatschef wird seit 1965 direkt vom Volk gewählt und kann beliebig oft wiedergewählt werden. Seit 2002 beträgt seine Amtszeit noch fünf statt sieben Jahre.
Der Präsident verkündet die Gesetze, kann den Premierminister entlassen und die Nationalversammlung auflösen. In Krisenzeiten kann er den Notstandsartikel 16 anwenden, der ihm nahezu uneingeschränkte Vollmachten gibt.
Der Staatschef ist gegenüber dem Parlament nicht verantwortlich. Durch eine 2007 beschlossene Verfassungsänderung sind Staatschefs im Amt vor Strafverfolgung ausdrücklich geschützt. Das Parlament kann den Präsidenten nur bei schweren Verfehlungen mit Zweidrittelmehrheit absetzen.
Frankreichs Staatschef ist Oberbefehlshaber der Streitkräfte und hat in der Verteidigungs- und Außenpolitik das Sagen. Seine stärksten Druckmittel sind der rote Knopf zum Einsatz von Atomwaffen und das Vetorecht im UN-Sicherheitsrat.
Der Präsident ernennt den Premierminister und auf dessen Vorschlag die übrigen Minister, leitet die wöchentlichen Kabinettssitzungen und nimmt Ernennungen für die wichtigsten Staatsämter vor.
Seine Macht wird jedoch eingeschränkt, wenn der Regierungschef aus einem anderen politischen Lager kommt und der Präsident keine eigene Mehrheit in der Nationalversammlung hat. Dieser Fall der „Kohabitation“ war bei der Verabschiedung der Verfassung nicht vorgesehen. Er trat aber bereits drei Mal ein, zuletzt 1997 bis 2002, als der konservative Staatschef Jacques Chirac mit dem sozialistischen Premierminister Lionel Jospin auskommen musste.
Für die französische Wirtschaftszeitung „La Tribune“ ist es die „Wahl zwischen Pest und Cholera“. Das Wochenmagazin „Le Point“ sieht Frankreich in einem „delirium oeconomicum“. Die Rede ist von dem seit einigen Tagen nicht mehr auszuschließenden Szenario, dass die Nachbarn zwei Extreme in die Stichwahl um das Präsidentenamt schicken. In der ersten Runde am Sonntag könnten sich Marine Le Pen von der rechtsradikalen Front National und der Tribun der Linken, Jean-Luc Mélenchon, qualifizieren.
Die bisherige Beruhigungspille, dass Le Pen in der Stichwahl bestimmt auf den sozialliberalen und EU-freundlichen Kandidaten Emmanuel Macron treffen und dann haushoch verlieren wird, wirkt nicht mehr: Die Börsen reagierten nervös. Der Risikoaufschlag für französische Staatsanleihen im Vergleich zu deutschen „Bunds“stieg auf mehr als 70 Basispunkte. Unter Umständen hat Frankreich die Wahl zwischen zwei Politikern, deren Feindbilder EU und „Großkapital“ sich gleichen wie ein Ei dem anderen.
Wie kann es sein, dass ein Land, von dessen Hauptstadt internationale Investoren als dem nächsten Silicon Valley schwärmen und das um die Qualität und Anzahl seiner Fachkräfte vielerorts ebenso beneidet wird wie um seine Kultur und Lebensart, sich derart nah an den Abgrund begibt? Und droht, Europa im Fall des Falles mit hinunter zu reißen?
Frankreichs Stärken werden oft massiv unterschätzt. Im Ausland, aber vor allem zu Hause, wo Verzagtheit und Pessimismus die Schleusen öffneten für eine unbändige Wut auf angebliche Profiteure, die je nach Bedarf Brüssel heißen oder Berlin, Aktionäre, Banken, Arbeitgeber, Politiker und neuerdings auch Medien. Die französischen Banken stehen viel besser da als die deutschen? Nur weil sie Blutsauger sind. Investoren stellen Geld zur Verfügung, damit Unternehmen wachsen können und auch Arbeitsplätze schaffen?
Nein, sie sind nur an Dividenden interessiert und bauen mit den Chefs Stellen ab, weil sie den Hals nicht voll genug kriegen können! Frankreich hat zigtausende Naturwissenschaftler, Mathematiker, Informatiker und eine riesige, innovative Start-up-Szene, die das Land in das digitale Zeitalter führen? Die produzieren nichts! Die Arbeiter bleiben auf der Strecke! Die Einwanderung muss beschränkt werden! Die Reichen sind Banditen! Brüssel schützt nur das Großkapital! Deutschland zwingt uns seinen Willen auf! Und so weiter und so fort.